Tief im Westen verstaubt nicht nur die Sonne, wie es Herbert Grönemeyer so prägend in seinem Evergreen „Bochum“ besingt. Tief im Westen verstaubt auch ein ambitioniertes Vorhaben. Was in Hamburg die Elbphilharmonie war, in Berlin der Flughafen und in Baden-Württemberg Stuttgart 21, ist bei uns im Pott scheinbar der Radschnellweg Ruhr, kurz RS 1. Klingt hipp und nach Zukunft pur, wie etwa der R2-D2 bei Star Wars, hat aber in der Umsetzung eher etwas von einem Dinosaurier.  

Bis zu 400.000 Pkw-Kilometer und 16.000 Tonnen Kohlendioxid pro Jahr einsparen: Was für ein Versprechen!

Die Vision: eine Art A40 für Fahrradfahrer mitten durch die Metropolregion, ein „schneller Weg am Stau vorbei“ für Pendler, Touristen und alle die, die gern zwischen Hamm und Duisburg in die Pedale treten, statt aufs Auto-Gaspedal zu drücken. 2010, dem Jahr, als drei Millionen Menschen mit dem Rad oder zu Fuß die Autobahn beim Kulturfest „Still-Leben“ in Beschlag nahmen, dem Jahr der Kulturhauptstadt also, als gefühlt eine Über-Energie der Zukunftsbilder die Entscheider im Pott erfüllte, wurde auch der RS 1 in den Köpfen geboren. Bis zu 400.000 PKW-Kilometer, bis zu 16.000 Tonnen Kohlendioxid könnten jedes Jahr durch den Radschnellweg eingespart werden, versprach eine Machbarkeitsstudie, die eine Fertigstellung bis 2020 anvisierte. 2015 lud dann tatsächlich der erste Abschnitt zwischen Mülheim an der Ruhr und Essen zum Radeln ein. Doch der Partystimmung folgte der Kater. Aktuell ein echter Dauer-Kater. 

Rebecca Heinz, Landesvorsitzende des ADFC, nennt den RS 1 in einer offiziellen Stellungnahme „ein Trauerspiel“. Von insgesamt 114 Kilometern seien bisher nur 19 Kilometer befahrbar. Erschwerend käme hinzu, dass die fertige Strecke in fünf Abschnitte aufgeteilt ist, die nicht einmal durchgängig befahrbar seien. Heißt konkret: Ohne Kontakt mit dem Autoverkehr nonstop radeln – das geht bisher nur auf der etwa 14 Kilometer langen Premieren-Teilstrecke zwischen der Universität Essen und der Hochschule Ruhr West in Mülheim. Dazu kommt ein drei Kilometer langes Stück bei Gelsenkirchen und ein knapp ein Kilometer langer Abschnitt in Bochum (Stoff für ein neues Grönemeyer-Lied über seine Heimatstadt ist das wohl kaum). Allein diese beiden letztgenannten Teilstrecken bringen alles für den offiziellen Radschnellweg-Standard mit: vier Meter breite, markierte, asphaltierte und getrennte Fahrbahnen, ausreichende Beleuchtung, einen Winterdienst sowie einen abgetrennten Fußweg. Den letzten kläglichen Kilometer steuert Dortmund im Kreuzviertel bei, in dem allerdings schlichtweg eine bereits bestehende Fahrradbahn zur „Fahrradstraße“ umgemodelt wurde. Kein Wunder also, dass vielerorts demonstriert wird, weil man sich als Radler schlichtweg ausgebremst fühlt. 

Note ausreichend beim Fahrradklimatest

Erschwerend kommt hinzu, dass auch der Ausbau der Radinfrastruktur jenseits des RS 1 nur schleppend vorankommt. Unzählige Kilometer sind kaputt oder baufällig. Und beim Fahrradklimatest des ADFC von 2022 straften regelmäßige Radler Ruhrgebietsstädte wie Bochum, Dortmund oder Essen mit der Note ausreichend ab. Die Mehrheit der Befragten fühlt sich beim Tritt in die Pedale durch die Cities nicht sicher. Beklagt werden vor allem die zu schmalen Radwege, Falschparker sowie gefährliche Baustellen-Situationen.  

Doch woran liegt’s? Können oder wollen wir das nicht besser? Die Antwort ist mit „beides“ eher schmerzlich für Fans der Anpacker-Ruhrgebietsmentalität.  

Riesige Abstimmungsschleifen mit Behörden und fehlende Fachkräfte

Zum einen prallen die ambitionierten Visionen oft gegen bürokratische Mauern: Da wären neben langwierigen Genehmigungsprozessen und Schwierigkeiten beim Grunderwerb die vielen Puzzleteile in Sachen Planungskompetenz, sprich die Schwierigkeit, die innerorts zuständigen Kommunen mit dem außerorts zuständigen Landesbetrieb Straßenbau NRW sowie dem Regionalverband Ruhr zusammen zu bekommen. Gleichzeitig gibt es riesige Abstimmungsschleifen mit Behörden, etwa mit der, die für Umweltfragen zuständig ist. Und auch der des Denkmalschutzes. Ebenso fehlt es an Fachkräften zur konkreten Umsetzung. 

Zum anderen, und das dürfte nur wenig verwundern, fehlt es an Geld. Das Landesministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr stellte 2023 43 Millionen Euro für den Bau und die Erhaltung von Radwegen an Landesstraßen zur Verfügung, 27 Millionen Euro für den Neubau und 16 Millionen Euro für den Erhalt bestehender Radwege. „Der Ausbau der Radwegeinfrastruktur ist eine zentrale Säule für die Mobilitätswende der Zukunft. Ihre Stärkung ist wichtiges Ziel der Landesregierung“, sagte Umwelt- und Verkehrsminister Oliver Krischer im Mai letzten Jahres. Was viel klingt, ist de facto nicht viel, wenn man z. B. bedenkt, dass allein der Bau der neuen A40-Rheinbrücke Neuenkamp bei Duisburg insgesamt satte 600 Millionen verschlungen hat. Sicher, man kann Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Aber wenn von Verkehrswende die Rede ist, darf das Rad schonmal mit dem Auto in den Ring steigen, oder? 

Schuld sind aber nicht immer nur die anderen oder wie wir auch im Pott gern sagen „die da oben“. Bürgerinitiativen gegen den Ausbau von Radwegen gibt es genug. Auch die Bahn macht Schwierigkeiten, braucht stillgelegte Strecken wieder selbst und kann sie nicht als Baugebiet freigeben.  

Ein gewisser Grund-Pessimismus gehört zur Ruhrgebiets-DNA ja häufig dazu. Studien zeigen auch, dass Ruhris Visionen oft als abgehoben und versponnen empfinden, sie das Handfeste, die Taten bevorzugen. Während sich der Berliner, am liebsten wohl der aus Prenzlauer Berg, schon mit wehendem Haar ohne Unterbrechung ins benachbarte Bundesland radeln sieht, um da mal so richtige Landluft zu schnuppern und ungespritzte Äpfel fürs kindgerechte Apfelmus zu kaufen, ist man im Revier eher skeptisch. Man hängt ja auch an dem Auto (und mittlerweile längst auch am Zweit-Auto), das einen einst aus Mangel an Alternativen von A nach B brachte und heute irgendwie auch noch ein Statussymbol ist in nicht immer einfachen Zeiten. Und außerdem ist man ja auch viele Jahrzehnte im Strukturwandel nicht gerade aus der Landeshauptstadt besonders unterstützt worden.

Klimafreundliche Mobilität: die Bereitschaft ist da

Umso schöner ist es da vermutlich zu hören, dass sie eigentlich da ist, die Bereitschaft, viel öfter aufs Rad zu steigen, die Mobilität klimafreundlicher zu gestalten. Das zeigen Umfragen ganz deutlich. Und vielleicht hilft es, dranzubleiben an der Verkehrswende, wenn man schwarz auf weiß serviert bekommt, dass man im Pott statistisch sogar richtig gut dasteht mit dem Radschnellweg. Denn von 20 Kilometern, die bislang traurigerweise im letzten Jahrzehnt bei sechs geplanten Projekten dieser Art in ganz NRW gebaut wurden, gehören 19 dem Ruhrgebiet. Und so sollten wir mit Vertrauen an die Sache gehen, wenn Minister Oliver Krischer sagt: „Ich bin sicher, wir kriegen da jetzt einen ganz anderen Drive rein.“ 

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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