Das Bild des Ruhrgebiets hat sich gewandelt. Kulturelle Landmarks wie das Weltkulturerbe Zeche Zollverein und die Route der Industriekultur haben Bilder von Industrietristesse und Abraumhalden verdrängt. Nirgendwo sind die Menschen so ehrlich, authentisch und herzlich wie hier. Und die Geschichte? Weitgehend die Erfolgserzählung einer Region, die den Strukturwandel gepackt hat. Die Historikerin Dr. Helen Wagner forscht zu Geschichts- und Identitätskonstruktionen im Ruhrgebiet. Sie sagt: „Wer nur die positiven Aspekte der Geschichte des Ruhrgebiets erzählt, erzählt sie zu einseitig und schafft keine Zukunftsperspektive für die Region“.

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Stahlwerk in Duisburg: Heute ist die Geschichte zur zentralen Identitätsressource im Ruhrgebiet geworden. © adobe stock

Sie beschäftigen sich mit Identitätskonstruktionen im Ruhrgebiet. Was fasziniert Sie als Historikerin daran über eine Region zu forschen, von der man das Gefühl hat, sie sei seit Jahrzehnten vor allem mit sich selbst und der eigenen Geschichte beschäftigt?

Als Historikerin ist die Frage nach Identitätskonstruktionen einer Region ganz grundsätzlich von Interesse, denn für viele Menschen ist die Konstruktion von Identität eine Hauptfunktion von Geschichte. Was mich am Ruhrgebiet fasziniert ist, dass man sehen kann, wie im Zuge des Strukturwandels die Geschichte zur zentralen Identitätsressource einer gesamten Region geworden ist.

Das ist an sich erstmal nichts Ungewöhnliches, Geschichte ist immer auch Identitätsressource, aber im Ruhrgebiet kann man sehr schön sehen, dass sie als einzige Klammer galt, die die Region noch zusammenzuhalten schien. Das Ruhrgebiet ist keine Region, die durch natürliche, politische oder administrative Grenzen umrissen ist, sondern durch die Entwicklung der Kohle- und Stahlindustrie.

Als diese Industrien im Niedergang begriffen waren, gab es die Diskussionen, „wird es das Ruhrgebiet überhaupt noch geben?“, „Wird es auseinanderfallen?“, „Hat das Ruhrgebiet überhaupt eine Zukunft?“. Diese Debatten wurden konkret geführt. Bei der Entwicklung, die Geschichte zu einer zentralen Zukunftsressource zu machen, ging es nicht um die Geschichte an sich, sondern um eine ganz spezifische Deutung, und zwar eine, die die Verlusterfahrung der Region umdeuten sollte.

Mich interessiert, nicht nur danach zu fragen, was erfolgreich ist an dieser Entwicklung, sondern auch welche Probleme daraus entstehen. Wir haben in den vergangenen Jahren gesehen, dass die starke Fokussierung auf die Vergangenheit im Ruhrgebiet etwas ist, dass auch negativ ausgelegt werden kann.

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Wie kaum ein anderer prägte die Figur des Tatort Kommissars Horst Schimanski, gespielt von Götz George, das Bild des bundesrepublikanischen Fernsehpublikums. Der harte Kerl mit dem weichen Kern wurde Pott-Stereotyp, zum Ruhri. © imago

Wenn man an den klassischen Pott denkt, hat man ganz schnell den klassischen Ruhri vor Augen. Gibt es den noch, oder ist der längst in Rente gegangen?

Den Ruhri als solchen hat es nie gegeben. Er ist eine Figur, eine kollektive Fiktion. Deshalb kann er gar nicht in Rente gehen. Der Ruhri ist ein Kollektivsingular, das die Bewohnerinnen und Bewohner des Ruhrgebiets über ein ganz bestimmtes Bild imaginiert.

Die Vorstellung, dass die Bevölkerung der Region ganz bestimmte Eigenschaften hat, kommt schon in der Literatur, aber auch in der Sozialwissenschaft der Zwischenkriegszeit auf. Sie verfestigt sich später besonders über die Popkultur, zum Beispiel im Kabarett seit Anfang der 1960er Jahre, als der Ruhrgebietsbewohner mit Jürgen von Mangers Figur Adolf Tegtmeier die Bühne betritt. Der „Ruhri“, der sich als Name für die Menschen im Ruhrgebiet etabliert hat, geht auf Fritz Eckenga zurück, der seit den 1990er Jahren zu den bekanntesten Kabarettisten des Ruhrgebiets zählt.

Die Geburtsstunde des „Ruhri“ schlug also, als das Ruhrgebiet über das Zechensterben, die Kohlekrise und den Strukturwandel zu einem Thema in den bundesweiten Nachrichten war. Es brauchte eine Identifikationsfigur, um über die Menschen und die Auswirkungen dieser Krisen zu berichten.

Das war zunächst der Kumpel und später dann der Ruhri, dem man ganz bestimmte Eigenschaften zuschreibt: Bodenständigkeit, Ehrlichkeit, harte Arbeit, Authentizität. Das sind positive Eigenschaften, die zum Teil sogar einen negativen Ursprung haben. So gilt die Bildungsferne der Arbeiterschaft zum Beispiel als Vorrausetzung für die Bodenständigkeit und Ehrlichkeit der Menschen, die frei heraus Tacheles reden.

Die Figur ist stark vom Bergbau geprägt und sie ist auch ganz stark männlich geprägt. Mich interessieren die Leerstellen bei dieser Figur. Um es kurz zu machen: Die Figur kann zwar nicht in Rente gehen, weil sie keine reale Entsprechung hat, aber wir können schon fragen, ob die Figur narrativ in Rente geht, weil sie nicht mehr die Funktion in der aktuellen Ruhrgebietsidentität einnehmen kann, die sie vielleicht mal hatte.

Die kollektive Identität des Ruhrgebiets, sagen die Historikerinnen Juliane Cierpka, Sarah Thieme und der Kirchenhistoriker Florian Bock, sei künstlich hergestellt. Die These: „Eine spezifische Gruppe nachgeborener bürgerlicher, oft sozialdemokratisch geprägter Akademikerinnen und Akademiker pflegt seit den 1970er Jahren ein mehr oder minder einheitliches Ruhrgebietsnarrativ“. Was hat das für Konsequenzen?

Identität ist immer konstruiert. Was wir aber im Ruhrgebiet sehen können ist, dass die Identität sehr stark mit der Geschichte der Sozialdemokratie verknüpft ist. Mit dem Aufstieg der Sozialdemokratie im Ruhrgebiet nach 1945 erarbeitete sich die Partei das Image der Kümmerer-Partei, die den Strukturwandel begleitet. Eine Dimension davon war die positive Identitätsstiftung für das Ruhrgebiet über Geschichte. Ich meine damit die Aufwertung der Industriegeschichte, der Arbeitergeschichte und der Geschichte der Arbeiterbewegung. Das war fester Bestandteil sozialdemokratischer Geschichtspolitik in NRW.

Zu Beginn war die Identitätsstiftung also durchaus dezidiert politisch. Interessant ist allerdings, dass es in den 1990er Jahren zu einer Veränderung kommt. Man bewegt sich weg von der Klassenspezifik. Es geht dann nicht mehr so sehr um Identitätsstiftung für die Arbeiterschaft, sondern vor allem um Identitätsstiftung für die Region. Dadurch kommt es zu einer Entpolitisierung des Konzepts und zu einer Öffnung hin zu einer Erzählung, die offen ist für andere, auch extreme politische Positionen.

Wenn Sie sich heute eine politische Veranstaltung im Ruhrgebiet, ganz egal welcher politischen Richtung, anschauen, wird es sehr wahrscheinlich Bergbaubezüge geben. Wir sehen, dass sich rechtsextreme Politiker in NRW jetzt das Image des Kümmerers zunutze machen. Auch rechtsextreme Gruppen im Ruhrgebiet nutzen die Symbolik des Bergbaus und Versatzstücke einer entpolitisierten Ruhrgebietsidentität, die sie für ihre rassistische Ideologie instrumentalisieren wollen.

Sie sagen, dass die Sozialdemokratie in den 90ern das Monopol auf die Identitätsstiftung im Ruhrgebiet verloren hat, wieso hat man das aufgegeben?

Es wurde es nicht aktiv aufgegeben, aber das Monopol ging verloren. In den 1990ern entdeckte man, dass Geschichte ein weicher Standortfaktor für das Ruhrgebiet ist und man nutzte die Strukturpolitik, um Geschichte als weichen Standortfaktor für die Region zu erschließen. Das geschah vor allem im Zuge der Internationalen Bauausstellung Emscher Park von 1989 bis 1999. Man entwickelte Industriekultur zum Standortfaktor und erschloss beispielweise Parks auf früheren Industrieflächen.

Die Jahrhunderthalle in Bochum, der Gasometer in Oberhausen oder der Landschaftspark Duisburg-Nord sind Beispiele für diese Entwicklung. Das Ruhrgebiet sollte zur Tourismusdestination werden und ein besseres Image bekommen. Dafür verabschiedete man sich von dem Fokus auf die Arbeiterschaft und stellt die postindustriellen Räume in den Vordergrund. Sie sollten von Orten der industriellen Vergangenheit zu Orten der postindustriellen Zukunft werden. Der Ritterschlag für diese Entwicklung war die Auszeichnung der Zeche Zollverein in Essen als Weltkulturerbe durch die UNESCO. Der Höhepunkt kam dann 2010, als Essen Kulturhauptstadt wurde. Für diese Zeit war das ein ungeheurer Erfolg, der das neue Image, die neue Identität des Ruhrgebiets international bekannt gemacht hat.

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Förderturm der ehemaligen Zeche Erin in Castrop-Rauxel: Im Zuge der Internationalen Bauausstellung Emscher Park entwickelte man die Idee der Industriekultur als Standortfaktor. © imago/Werner Otto

So wie Sie das darstellen klingt es, als hätte diese Entwicklung keine Schattenseiten.

Doch, die gibt es absolut. Denn was parallel geschieht, ist die ganz starke Vermarktung von Geschichte. Heute können Sie vom Handtuch über die Badeente bis hin zur Seife alles mit einem stilisierten Förderturm oder mit Schlegel und Eisen kaufen. Das zieht sich hinein bis in den Dienstleistungssektor, alles Mögliche hat Pott-Bezug. Problematisch ist daran, dass die Geschichte ausschließlich auf positive Aspekte verengt wird. Negative Erfahrungen wie etwa die rassistische Diskriminierung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten oder die Härten der industriellen Arbeit verblassen dahinter, obwohl sie auch wichtige Teile der Geschichte sind.

Das künstliche Erschaffen kollektiver Identitäten ist nicht unproblematisch. Vielmehr ist der künstliche Eingriff in das kollektive Zugehörigkeitsgefühl oft ein Mittel von Diktaturen, um ihre Bürger auf Linie zu bringen.

Geschichte ist immer politisch. Das gilt für die Auseinandersetzung mit Geschichte in der Öffentlichkeit genauso wie für die Identitätsstiftung über Geschichte.

Beides ist - auch in Demokratien - immer politisch. Die Frage ist aber: Wie erzählen wir diese Geschichte? Wenn wir sie nur zugespitzt auf ausgewählte positive Kerne erzählen, also Geschichte glätten, handelt man sich ein großes Problem ein. Eine glatte Geschichte kann nicht falsifiziert werden. Wenn also ein Rassist sagt, er sei ein Kumpel und könne schon deshalb kein Rassist sein, dann fällt es schwer, so etwas vor dem Hintergrund eines idealisierten Kumpel-Begriffs zu widerlegen.

Sie spielen auf das Narrativ an, es habe unter Tage keinen Rassismus geben können, weil man schließlich aufeinander angewiesen war ...

Genau. Denken Sie an das „Schmelztiegel-Narrativ“. Das ist ein gut gewolltes Mittel der Identitätsstiftung in einer Demokratie. Es ist ein pluralistisches Bild, es transportiert Offenheit und Diskriminierungsfreiheit.

Unter Tage musste man sich aufeinander verlassen können und miteinander arbeiten. Das ist auch nicht falsch. Wenn ich diese Narrativierung kritisiere, sage ich nicht, dass es diese Tradition nicht gab, keinesfalls. Mir ist das sehr wichtig.

Es gab eine solidarische Tradition der Bergleute. Aber: Idealisierte Erzählungen heben Positives hervor und verdecken Negatives. Es gab im Ruhrgebiet Rassismus gegen Arbeitsmigrantinnen und -migranten unter und über Tage und es gibt ihn bis heute. So etwas wird mit einem rein positiven Schmelztiegel-Narrativ wegerzählt.

Machen wir nicht aus einer Mücke einen Elefanten? Was ist so falsch daran, wenn sich Menschen auf eine manchmal raue, aber am Ende doch warmherzige Mentalität einigen können?

An der Mentalität ist nichts falsch. Ich stamme aus Essen und wenn ich mit Menschen aus dem Ruhrgebiet spreche, stelle ich oft fest, dass man dann fast automatisch von einem Wir spricht. Die Frage ist nur: „Wer ist Teil von diesem Wir?“, „Wer kann dieses Wir für sich beanspruchen?“ und „Wer gehört nicht dazu?“

Meiner Meinung nach ist es wichtig, Geschichte in ihren Ambivalenzen zu erzählen. Dazu gehören Konflikte, Härten der Arbeit, Streiks, die nicht immer nur erfolgreich waren, sondern teilweise auch niedergeschlagen wurden. Es bringt nichts, sich ein einfaches, glattes Bild aus der Geschichte zu holen, denn auch Gegenwart und Zukunft sind weder glatt noch einfach. Im Gegenteil, Identitätsstiftung durch Geschichte ist nur sinnvoll, wenn sie auch Brüche mittransportiert.

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Kumpel bei einer Demonstration der IGBE 1987: Härten der Arbeit, Arbeitskämpfe und Rassismus gegen Arbeitsmigrant*innen gehören ebenso zur Geschichte des Ruhrgebiets. © imago/Klaus Rose

Was macht eigentlich die junge Generation, die mit dem romantischen Bild des ehrlichen Arbeiters immer weniger anfangen kann. Die Zechen sind längst geschlossen. Ist die Ruhrgebietsidentität am Ende eine historische Idee mit Ablaufdatum?

Wenn das Bild und die Identitätskonstruktion geschlossen sind und nicht geöffnet werden für einen Wandel, der auch andere Teile der Geschichte sichtbar macht, dann hat diese Idee ein Ablaufdatum wie alle anderen geschlossenen Geschichtsbilder auch.

Solche Identitätsbilder werden immer zu einer bestimmten Zeit von einer bestimmten Gruppe für eine bestimmte Gruppe konstruiert. Geschichtsbilder, die Veränderungen und Weiterentwicklungen nur als Angriff wahrnehmen haben keine Zukunft. Wenn aber andere Spuren und viele Perspektiven auf die Geschichte Platz haben, dann kann sie auch für nachfolgende Generationen hilfreich sein.

Der Strukturwandel hat viele Leerstellen hinterlassen, soziostrukturell, wirtschaftlich und kulturell. Mit Claims wie „Die Stadt der Städte“ oder „German New York“ anlässlich des Kulturhauptstadtjahres „Ruhr 2010“, versucht man diese Lücken zumindest rhetorisch zu schließen. Gelingt das?

Was man mit Ruhr 2010 erreichen wollte, hat man zu der Zeit erreicht. Eine starke Mythologisierung der Ruhrregion und ihre Inszenierung als Marke. Das war hilfreich, um den Titel „Kulturhauptstadt“ zu erhalten. Es gibt den Ausspruch "Unser Neuschwanstein, konnte nur eine Zeche sein".

Diese Betrachtungsweise verrät viel über Imagepolitik, genauso wie die Idee von „German New York“. Man fragt nicht danach, wie man das Ruhrgebiet aus seiner spezifischen Vergangenheit in seine spezifische Zukunft entwickeln kann, sondern wie man aus dem Ruhrgebiet New York macht.

Und da liegt das Problem. Denn was wir uns bewusst machen müssen, ist, dass der Strukturwandel viele Leerstellen hinterlassen hat. Ein Claim, eine Raumvorstellung kann diese Vielzahl an Lücken nicht schließen. Geschichte kann kein Lückenfüller sein.

Über Dr. Helen Wagner

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Die Historikerin Dr. Helen Wagner forscht danach, welche Impulse die Geschichtsforschung für die Bewältigung des Strukturwandels liefern kann. © Helen Wagner

Die Historikerin Dr. Helen Wagner wurde 1990 in Essen geboren, studierte in Münster, Berlin und Amsterdam und promovierte anschließend in Essen. Sie lehrt an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg am Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte. Ihre unter dem Titel „Vergangenheit als Zukunft? Geschichtskultur und Strukturwandel im Ruhrgebiet“ erschienene Dissertation wurde zweifach ausgezeichnet, mit dem „Förderpreis des Kompetenzfelds Metropolenforschung der Universitätsallianz Ruhr und der Emschergenossenschaft für herausragende Dissertationen auf dem Gebiet der Metropolenforschung“ und dem „SI-Club-Essen-Förderpreis für herausragende Dissertationen in den Geisteswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen“. 2020 erhielt sie „Lehrpreis der Philosophischen Fakultät der FAU Erlangen-Nürnberg“.

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