Der Kabarettist spricht offen über Identitätsbildung in den Sozialen Medien, Kunst als Lebensform im Ruhrgebiet, das Bildungssystem in der Abwärtsspirale und eine Region zwischen Nostalgie und Renaturierung.

Inwiefern beeinflusst das Ruhrgebiet, in dem Sie geboren sind und wo Sie auch studiert haben, Ihren humorvollen Blick auf die Welt? Und hat die Region vielleicht auch Ihren Werdegang besonders geprägt?

Natürlich hat mich die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, geprägt. Das geht beim Geruch des Zigarrenladens meines Opas in Wesel los und endet bei den Spaziergängen an der menschenleeren Ruhr in der Coronazeit. Ich habe ja einen Großteil meines Lebens im Rhein-Ruhr-Raum verbracht. Jede persönliche Prägung ist auch räumlich geprägt. Ob das auch meinen Humor geprägt hat? Keine Ahnung. Um das herauszufinden, müsste ich wahrscheinlich in Therapie, da fehlt mir die Zeit zu…

Ist der Humor im Ruhrgebiet (oder in NRW) anders als in anderen Regionen und was zeichnet ihn aus?

Es ist wahrscheinlich eine gewisse Bodenständigkeit, die die Menschen hier prägt – und damit auch den Humor. Man lacht auch gerne mal deftig. Schnöseligkeit hilft an der Ruhr nicht wirklich weiter.

Gibt es in Ihren Augen eine typische Ruhrgebietsmentalität und was macht Sie aus Ihrer Sicht aus? Und wo sind Sie vielleicht typisch oder untypisch in Ihren eigenen Eigenschaften?

Pauschale kollektive Charakterzüge will ich jetzt nicht noch detaillierter beschreiben. Man ist ja dann schnell im Bereich des Klischees. In den über 60 Jahren meines Lebens hat sich der Raum auch stark verändert. Früher dachte man, der klassische Porschefahrer im Ruhrgebiet ist Düsseldorfer und macht eine Spritztour dahin, wo die Abgase nicht so auffallen. Heute sitzt im Lamborghini auch mal ein Möchtegernrapper aus Herne. Die Zeiten ändern sich.

Auch als Künstler beleuchten Sie immer wieder das Ruhrgebiet. Was macht diese Region aus Sicht eines Malers und Fotografen so besonders?

Die Gegend hat etwas Melancholisches. Die Industrieprägung ist immer noch stark, aber sie hat etwas Nostalgisches. Das Ruhrgebiet ist heute Dienstleistungsregion. Es wird renaturiert. Der Wandel ist hier immerwährend. Das erzeugt auch ein Gefühl steten Heimatverlustes.

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Was bedeutet Kunst generell? Für Sie persönlich und in Hinsicht darauf, was oder wen Sie mit Ihren Werken erreichen wollen?

Ich will nichts erreichen. Kunst ist ja kein zielgerichteter Vorgang. Kunst ist für mich eine Lebensform. Ich verbringe meine Lebenszeit mit Lebensraumerkundung. Ich bereise die Welt und meine Heimat und schnitze aus dem Vorgefundenen Bilder und Texte. Mehr kann man nicht tun. Dass ich davon leben kann, ist ein großes Privileg.

Ursprünglich haben Sie auf Lehramt studiert, auch das Erste Staatsexamen gemacht. Warum sind Sie dann noch einmal anders abgebogen?

Ich wollte nie ernsthaft Lehrer werden. Der Abschluss diente mehr der Beruhigung meiner Eltern, die dachten, dass alle Künstler Hunger leiden…

Wie sehen Sie aus Ihrer Biografie heraus und auch als Vater die heutige Bildungslandschaft im Ruhrgebiet / in NRW? Was läuft gut, was weniger gut?

Ob die Bildung im Ruhrgebiet jetzt so viel anders ist, als in Detmold oder Leverkusen, wage ich zu bezweifeln. Meine Tochter ist, Gott sei Dank, aus der Schule raus. Die Verhältnisse werden ja nicht besser. Das ganze Land befindet sich in einer Abwärtsspirale, und die Bildung geht voran… Es fehlt oft schon an einer gemeinsamen Sprache, und meines Erachtens gibt es auch keinen Konsens über einen angemessenen Bildungskanon. Eltern fürchten heute in erster Linie Überanstrengung ihrer Kinder. Man glaubt heute gemeinhin daran, Anspruch auf ein stressfreies Leben zu haben. Ich fürchte, Deutschland lebte mal von seinem guten Bildungssystem. Das ist vorbei, wie die PISA-Studien beweisen. Das wird uns viel Wohlstand kosten. Und ich glaube nicht, dass das Problem bereits angemessen angefasst wird.

„Ich glaube, Kunst und Kultur spielen heute eine viel kleinere Rolle als früher. Identifikations- und Kulturfragen werden heute in Sozialen Medien verhandelt.“

Dieter Nuhr

Wie wichtig ist ein Zugang zu kulturellen Angeboten für die Bildung junger Menschen, gerade in heutigen Zeiten? Und welche Rolle spielen Kunst und Kultur allgemein bei der Identitätsbildung und -festigung?

Ich glaube, Kunst und Kultur spielen heute eine viel kleinere Rolle als früher. Identifikations- und Kulturfragen werden heute in Sozialen Medien verhandelt. Trends sind kurzlebiger. Es geht heute in der Kultur mehr um Unterhaltung statt um Bildung. Ich will das nicht bewerten. Der Bildungsbürger stirbt ja gerade aus. Ob das ein Verlust ist, weiß ich nicht. Meine Großelterngeneration hat sich als gebildet verstanden und dann den Faschismus eingeführt. Ich neige nicht zur Verklärung der guten alten Zeit. Ich glaube nicht, dass Kunst und Kultur automatisch die Welt verbessern.

Wer hat Sie selbst künstlerisch beeinflusst als junger Mensch?

Ich hatte mit Laszlo Lakner einen großartigen Maler als Lehrer. Kunst habe ich immer als Lebensform betrachtet und damals alles aufgesaugt, Ausstellungen, Modern Dance-Aufführungen in der Werkstatt in Düsseldorf, da war viel alternative Szene dabei. Gleichzeitig neigten wir nicht dazu, die Dinge zu ernst zu nehmen. Wir waren selbstironisch und gingen dann auch mit eigenen Texten auf die Bühne, um uns über unsere eigene Szene lustig zu machen. Schon damals konnte man spüren, dass das nicht für alle gut zu ertragen war. Bis heute sind ja gerade im grün-linken Bereich viele nur für einen Humor zu haben, der sich über andere lustig macht, nicht über die eigenen Leute. Damals habe ich gelernt: Ein guter Komiker macht sich mit niemandem gemein, auch nicht mit der guten Sache…

Hat auch die kulturelle Landschaft im Ruhrgebiet einen Strukturwandel durchgemacht? Und sehen Sie diesen als gelungen oder kritisch an?

Da maße ich mir kein Urteil an. Ich freue mich, dass ich kein Lehrer bin und Noten geben muss… Ich habe bei meinem letzten Auftritt in Dortmund in der Westfalenhalle das Programm des Schauspielhauses, das am selben Tag seine Saisoneröffnung hatte, vorgelesen. Das war ein großer Lacher. So viele Leerformeln aus der postkolonialistisch-feministisch-diversen Mottenkiste, herrlich. Das ist im Ruhrgebiet wahrscheinlich nicht viel anders als nebenan. Viele Kulturschaffende sind ja heute stramm linientreue Ideologen, da halte ich mich lieber raus.

Viele Künstlerinnen und Künstler beklagen, dass das Ruhrgebiet oder NRW allgemein künstlerisch unterschätzt werden. Sehen Sie das ähnlich und woran könnte das liegen?

Habe ich noch nie gehört. Deswegen kann ich auch nicht sagen, woran das liegt, aber ich glaube, auch das Lipperland wird unterschätzt…

Sie sprechen in Ihren Programmen häufig über gesellschaftlich relevante Themen: Erleben Sie, dass Polarisieren in Zeiten von Social Media und Co. heute härtere Auswirkungen hat als früher?

Natürlich. So ist die Stimmung im Land: Der Andersdenkende wird als Feind empfunden. Viele haben heute einen eher engen Horizont. Das führt dazu, dass andere Meinungen oft nicht als Bereicherung empfunden werden, sondern als Frechheit. Man ist sich heute sicher, dass abweichendes Denken nur zwei Ursachen haben kann: Bosheit oder Dummheit.  

Sind Komik und Satire vielleicht heute zu „weichgespült“?

Auch da will ich kein pauschales Urteil abgeben. Ich glaube, einer der Gründe, warum ich auf der Bühne stehe, ist, dass ich zum Publikum nicht tauge.

Was bedeutet Heimat für Sie? Und wie hat diese sich verändert, positiv wie negativ? Was brauchen Sie persönlich, um sich heimisch zu fühlen?

Heimat ist überall, wo die Dinge selbstverständlich sind, wo man sich quasi blind bewegen kann. Heimat verändert sich immer. Im 19. Jahrhundert kam die Industrialisierung. Es gab irgendwann Straßenbeleuchtung und Strom. Dann kam das Auto, der Erste Weltkrieg, das Dritte Reich, Judenvernichtung, Zerstörung, Wiederaufbau, dann das Fernsehen, was das Sozialleben völlig veränderte, die Umweltbewegung, der Mauerfall, das Internet und und und. Es ist nicht so, als wenn wir heute in besonders instabilen Zeiten leben würden, im Gegenteil. Wandel war früher weitaus radikaler. Und Heimat ist da, wo man sich mit verändert und deshalb auch im Wandel zu Hause ist.

Was können Sie jungen Künstlern aus dem Ruhrgebiet auf ihrem Weg mitgeben? Und: Würden Sie selbst Ihren Weg im Wissen von heute noch einmal so gehen?

Ich bin mehr als glücklich und dankbar dafür, wie alles für mich gelaufen ist. Ich kann mir kein besseres Leben vorstellen. Aber heute müsste man woanders lang, weil sich die Wege verändert haben. Jungen Künstlern kann ich deshalb keine Tipps geben, außer vielleicht den, nicht dem Klischee des Künstlers entsprechen zu wollen, sondern den eigenen Weg zu finden. Aber das hat schon immer gegolten.

© picture alliance/dpa


Das ist Dieter Nuhr:

Dieter Nuhr wurde am 29. Oktober 1960 in Wesel geboren. Er besuchte das Leibniz-Gymnasium in Düsseldorf, studierte 1981 bis 1985 an der Universitäts-Gesamthochschule in Essen Kunstpädagogik und Geschichte auf Lehramt und machte 1988 sein Staatsexamen.  

Seit 1986 tritt Nuhr als Kabarettist auf. Heute ist er längst einer der bekanntesten Satiriker Deutschlands, hat eine eigene Sendung in der ARD, füllt riesige Hallen mit seinen Bühnenshows.

Auch seine bildnerische Seite gewinnt stark an Öffentlichkeit. Nach seinem Kunststudium mit Schwerpunkt Malerei widmet er sich heute der konzeptuellen Fotografie. Reisend erkundet er die Welt, dokumentiert abseitige Welten und verwandelt sie in Bilder. Seine detaillierten Beobachtungen mit der Kamera verwandeln sich in gestaltete Kompositionen.

Dieter Nuhrs Arbeiten wurden in zahlreichen Museen und Galerien gezeigt, unter anderem im Luxehills Art Museum in Chengdu und auf der Shangdong Biennale in China, im Osthaus-Museum Hagen und - parallel zur Biennale - in den Sale Monumentali der Biblioteca Nazionale am Markusplatz in Venedig, sowie im Nationalmuseum des Senegal in Dakar und im Museo nazionale delle arti Maxxi in Rom.

Der Kabarettist und Vater einer Tochter räumte bereits diverse Preise ab, darunter den Deutschen Comedypreis oder den Deutschen Kleinkunstpreis. Auch für sein soziales Engagement für SOS-Kinderdörfer würde Nuhr bereits geehrt, z.B. mit dem Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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