Zu spät, zu wenig, zu teuer, zu lang: Wenn es um den Nahverkehr im Ruhrgebiet geht, gibt’s viel Kritik. Warum Mobilität im Pott so emotional aufgeladen ist, woher die Probleme kommen und was sich drin

Der Geruch nach nassen Regenjacken aus Plastik und Wurstbutterbroten drang tief in meine Nase. An den Scheiben sammelte sich Kondenswasser und bei jedem Halt mischten sich das lautstarke „Ich muss hier raus“ aus der dicht gedrängten Masse mit dem „Pling“ der Neueinsteiger, die ihr Ticket entwerteten. Wenn es regnete, und ich meine wirklich richtig regnete, in Strömen, dann durfte ich ausnahmsweise statt mit dem Rad mit dem Bus zur Schule fahren. Mit den coolen Schülern, den älteren. Für mich war das ein echtes Upgrade, eine Errungenschaft – und funktionierte immer einwandfrei. Ich kam pünktlich und heil an, musste auf den vier Kilometern auch nicht umsteigen – oder andere Hürden überwinden. Meine Oma indes hatte weniger Coolness-Anforderungen an den ÖPNV, sondern meisterte, da sie gar keinen Führerschein hatte, ihr gesamtes Leben mit dem Bus: vom Einkauf über das Treffen mit Freundinnen bis hin zum Friedhof-Besuch. Kreuz und quer ging es durch die Stadt und gern auch mal in die Nachbarstadt, selbsterklärend das Ticket-System, schnell und zuverlässig der rollende Riese. Der mich und meine Freunde übrigens spätabends am Wochenende als Disco-Bus auch zur Tanzfläche brachte. Kurzum: Meine Erinnerung an den Nahverkehr von früher ist eine positive, beinahe romantische.

Aus kurzen Wegen wird plötzlich eine lange Reise – trotz „cooler“ App

Jedenfalls gab ich kürzlich, mit euphorischer Nostalgie im Kopf, ganz naiv und voller Überzeugung, meine Ökobilanz wieder verbessern zu wollen, in eine Nahverkehrs-App mein „Reiseziel“ ein. Und verstand nach dem Ausspucken des Ergebnisses sofort, warum von einer „Reise“ die Rede ist. Einen Rucksack mit Proviant hätte es nämlich auf jeden Fall gebraucht. Denn die Route sollte so vonstattengehen: Sieben Minuten zu Fuß, dann rein in die erste Buslinie, nach zwölf Minuten wieder aussteigen, eine Minute Fußweg zur nächsten Haltestelle, von hier aus 15 Minuten mit einem neuen Bus weitertuckern, erneuter Ausstieg, weitere 40 Minuten Busfahrt absolvieren, und dann noch einmal zwei Minuten zu Fuß zurücklegen: Und schon hätte ich von meiner Heimatadresse in Gladbeck mein Wunschziel, den Oberhausener Hauptbahnhof, erreicht. Dauer der Reise: eine Stunde und zwölf Minuten für knapp 23 Kilometer. Mit dem Auto hätte ich nur 20 Minuten gebraucht. So macht Nahverkehr Spaß!

Dabei kann ich mich, wenn ich von ganz anderen Situationen höre, offenbar glücklich schätzen, dass in dem Stadtteil meiner Heimatstadt überhaupt Busse fahren, sogar regelmäßig, und es immerhin in Gladbeck drei Bahnhöfe gibt, von denen sogar Züge starten (wie diese Bahnhöfe ausgestattet sind, darüber gilt es allerdings lieber Stillschweigen zu wahren und auch darüber, dass eine Großbaustelle zwischen Haltern und Gladbeck die Lebensader-gleiche S9 zuletzt zum Erliegen brachte).

„Senioren haben kein Elterntaxi“

Im Essener Stadtteil Horst etwa gab es im Juli letzten Jahres Proteste der Anwohner, da die Buslinie komplett eingestellt und die S-Bahn nur noch einmal in der Stunde fuhr. „Senioren haben kein Elterntaxi“ oder „Nix mit Verkehrswende“ waren die eindeutigen Unmuts-Botschaften, die Familien, Jugendliche und Senioren bei ihrer kleinen Demo auf Pappschilder geschrieben hatten. Ein ähnliches Bild in Mülheim: Hier brauchten viele Schüler wegen eines veränderten Fahrplans plötzlich über eine Stunde bis zur Schule, weil sie ihre Anschlüsse nicht mehr erreichen konnten. Oder Busse wegen Krankheit des Personals gleich gar nicht mehr fuhren. Und für viele Pendler wurde der Weg zur Arbeit „teilweise unmöglich“, wie aufgebrachte Bürger und Bürgerinnen berichteten. Ebenso viel Nahverkehrsfrust in Wesel. Hier wurde ein ganzer Stadtteil bei der Einführung neuer Busse schlichtweg vergessen.

Mit Mobilität verbinden wir Freiheit, Flexibilität. Sie ist Basis für echte Teilhabe

Die Liste der Negativ-Beispiele ließe sich endlos erweitern. Betroffen sind kleine wie große Städte, stark wie weniger bewohnte Stadtteile und Ortschaften. Und die Auswirkung spüren Junge wie Ältere gleichermaßen. Mobilität ist mehr als nur das schlichte Kommen von A nach B. Mit Beweglichkeit verbinden wir Selbständigkeit, Flexibilität, Freiheit und Ungebundenheit. Mobilität ist die Basis für Teilhabe und damit untrennbar an unser Wohlbefinden und unsere psychische wie physische Gesundheit geknüpft. Studien zeigen deutlich, dass eine bedürfnisgerechte Mobilität einen stark-positiven Einfluss auf ein gelingendes Älterwerden, aber auch das Erwachsenwerden hat. Sie bestimmt auch, wo Menschen hinziehen, weshalb sie wegziehen. Wo nix fährt, will man am Ende auch nicht bleiben. Muss man es, ist man irgendwann, selbst bei der größten Engelsgeduld, frustriert. Und wird gefühlt tatsächlich irgendwie abgehängt.

Für eine qualitativ-psychologische Wirkungsanalyse zum Leben im Ruhrgebiet und den damit verbundenen Vor- und Nachteilen haben die Brost-Stiftung und die Brost-Akademie gemeinsam mit der Akademie für Kultur, Markt, Medium (akm) Bewohner und Bewohnerinnen befragt. War es früher für viele der Charme des Potts – und irgendwie auch gelebte Selbstverständlichkeit –, sich zügig und recht problemlos in der Region bewegen zu können, wächst heute der Unmut über Grenzen. Grenzen der Beweglichkeit. Neben der A40 und ihrer Dauerstau-Problematik und dem schlechten Zustand der Straßen wurde in den Tiefen-Interviews vor allem der Nahverkehr kritisiert. „Heute bist du mehr denn je aufs Auto angewiesen. Wenn die Bahn Probleme hat, dann noch mehr“, berichten Befragte. „Da kann es dir passieren, dass du mit dem öffentlichen Nahverkehr mehr als eineinhalb Stunden brauchst für eine Strecke vielleicht dreißig Minuten mit dem Auto“, beklagen andere. Gefordert werden ganz klar Verbesserungen des Öffentlichen Nahverkehrs am Abend und in der Nacht sowie eine Vereinheitlichung des Ticketsystems. Von Grundbedürfnissen wie Verfügbarkeit und Pünktlichkeit am Tage ganz zu schweigen!

Ähnlich und ohne Beschönigung beschreiben auch Befragte aus allen Ruhrgebietsstädten, von Gelsenkirchen bis Bochum, der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) ihre tagtäglichen Hürden. „Der ÖPNV in unserer ländlichen Gegend bietet uns keine Möglichkeit für Sport, Nahrungsmittel und medizinische Versorgung“, beklagt ein 73-jähriger Duisburger. „Mit dem Auto 15 Minuten, mit dem ÖPNV ca. 90 Minuten“, erklärt eine Recklinghausenerin ihren Unmut. „Glaubt die Politik, dass man sich freiwillig in die Gefahr von Übergriffen (…) begibt“, schimpft etwa ein Gelsenkirchener, der weiter das Auto für alle seine Wege nutzen will.

Aussagen, die zur Nutzung und zu Defiziten des Nahverkehrs im Ruhrgebiet getätigt werden, gleichen sich nicht nur im Kern, da sie in der Regel auf zu lange Fahrtzeiten, Verfügbarkeit von Verbindungen, fehlende Barrierefreiheit und immer öfter auch Sicherheit anspielen. Sie sind auch meist mit Emotionen aufgeladen. Denn kaum ein Thema ist für die Menschen sensibler als das der zerrinnenden oder verschwendeten Zeit und das des Eingeschränkt- und Gehemmtseins. Da es Teil der Ruhrgebiets-DNA ist, Dinge klar beim Namen zu nennen, so zeigen Erhebungen, werden Kritik und Unmut traditionsgemäß besonders laut und deutlich Luft gemacht. Doch was sagen die Fakten?

Zwei von drei Bushaltestellen im VRR nicht barrierefrei

Nehmen wir einmal die, besonders von Älteren beklagte fehlende Zugänglichkeit. Tatsächlich sind knapp zwei von drei Bus- und Bahnhaltestellen im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr nicht barrierefrei. Das meldete der VRR im Juli 2023 selbst. Besonders schlecht sieht die Lage u.a. im Kreis Kleve und in Wuppertal aus. Hier sind weniger als 20 Prozent der Haltestellen für all jene geeignet, die mit Mobilitätseinschränkungen zu kämpfen haben. Heißt konkret: zu hohe Bordsteine, fehlende Aufzüge usw. Allerdings gibt es auch hier positive Beispiele im Pott, die künftig Maßstäbe setzen sollen. Oberhausen etwa erreicht eine Quote von stolzen 93 Prozent Barrierefreiheit.

Und haben Sie auch in den letzten Monaten ständig folgende Durchsage gehört? „Die Fahrt der S-Bahnlinie XY muss wegen Personalmangels ausfallen!” Dann dürfte es Sie nicht überraschen, dass sich die krankheitsbedingten Ausfälle zuletzt nahezu verdoppelt haben. Ebenso wie die Fluktuation beim Personal. Und wenn dann auch noch gestreikt wird, dann, ja dann fährt wirklich nix.

„Sünden der Vergangenheit“ erschweren die Zukunft des Nahverkehrs im Pott

Gleichzeitig ist Größe nicht immer gleich Macht und schon gar kein Segen. Und so ist der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) zwar einer der größten Verkehrsverbünde Europas, aber komplizierterweise eine Art Flickenteppich aus insgesamt 33 Verkehrsunternehmen und sechs Eisenbahnverkehrsgesellschaften. Zu allem Überfluss sind die örtlichen Stadt- und Straßenbahnen auch noch auf verschiedenen Gleisbreiten unterwegs. „Sünden der Vergangenheit“, nennt der VRR, 1980 gegründet, diese Tatsache häufig und hat damit sicher nicht Unrecht. Erschwerend kommt hinzu, dass das VRR-Gebiet nicht einmal deckungsgleich mit dem Ruhrgebiet ist. Wieso auch einfach, wenn es kompliziert geht? Im Osten gehört z. B. Hamm schon zum Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe, im Westen erstreckt sich die VRR-Zone dann aber bis zu den benachbarten Niederlanden.

„Und wat is getz?“, würde mein Opa fragen. Hat er auch gern gefragt. Zum Beispiel, wenn der Bus nicht pünktlich kam. Müssen wir uns alten Planungssünden und im Zweifel dem stets im Herbst überraschend auf die Gleise fallenden Laub, das Fahrpläne durcheinanderwirbelt, ergeben? Das Ruhrgebiet zur ewigen „Es fährt kein Zug nach Irgendwo“-Wortspiel-Zone erklären? Nein! Es gibt sie noch, die Hoffnung, dass sich alles so cool und frei und flexibel anfühlt, wie ich es damals als Schülerin (übrigens den statistischen Erhebungen zufolge, war auch damals Pünktlichkeit und Verfügbarkeit kein Standard) empfunden habe, wenn ich den Bus bestieg!

Große Pläne für 2024: mehr Linien, längere Betriebszeiten

Denn eines ist klar: Mobilität ist immer auch ein gutes Wahlkampfthema und das meine ich jetzt nicht provokant. Wo ein Thema, da auch Gelder. Und Öffentlichkeit. Gleichzeitig gab es zuletzt ein hoffnungsvolles Aktionsprogramm, an dem sowohl der VRR als auch der RVR (Regionalverbund Ruhr) beteiligt waren und die für 2024 die Abstimmung der Fahrpläne umsetzen will. Zugleich soll es auf 28 Verbindungen, die in mindestens zwei Städten fahren, eine höhere Taktung oder längere Betriebszeiten geben. Auch neue Buslinien, etwa zwischen Bottrop und Dinslaken oder Recklinghausen und Datteln, sind vorgesehen.

Kleine Schritte statt großer Wurf? Vielleicht. Aber ein Anfang. Den auch wir selbst mittragen können. Denn mal ehrlich: Dass zuletzt nur zehn Prozent der Wege im Ruhrgebiet mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt wurden, ist doch nicht nur der Tatsache geschuldet, dass Bus und Bahn zu spät kommen und lange brauchen. Vielleicht sind wir auch ein ganz klein wenig bequem?

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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