Mit vier von zehn Stadien befindet sich fast die Hälfte der Austragungsorte der Fußball-Europameisterschaft in NRW. Wer daran verdient und wer die Zeche zahlt

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Fans des runden Leders müssen jetzt ganz stark sein. Auch wenn die leidenschaftlichen EM-Vorbereitungen den Eindruck erwecken, liegt die Wiege unserer Fußballnation nicht, wie viele denken, im Ruhrgebiet. Die erste dokumentierte Fußballpartie auf deutschem Boden wurde 1874 in Braunschweig ausgetragen. Dafür aber gilt, und dieses Zitat prägte mit Franz Beckenbauer ein echter Held im Stollenschuh: „Das Herz des Fußballs schlägt im Ruhrgebiet“. Der FC Schalke 04 (gegründet 1904) und Borussia Dortmund (gegründet 1909) gehören zu den ältesten und geschichtsträchtigsten Vereinen der Region. Schon mit der eigenen Geburt steht fest, ob man sich ins blau-weiße oder schwarz-gelbe Fußballlager einzuordnen hat, die Liebe zum Verein wird quasi vererbt. Das Mitfiebern mit kleineren Clubs wie dem VfL Bochum, dem MSV Duisburg oder Rot-Weiss Essen ist natürlich auch erlaubt. Kritisch wird es aber, wenn man sich als „Edelfan“ des FC Bayern outet. „Einer von uns“ ist man da in vielen Köpfen nicht mehr.

„Im Ruhrgebiet wird der Fußball nicht nur gespielt, er wird gelebt“

Doch nicht nur die Proficlubs sind ein Aushängeschild der Region, auch die rund 1.200 Amateur- und Hobby-Kickervereine, die aus den Arbeitersportvereinen hervorgegangen sind, zeugen von der fußballbegeisterten Kultur. Auf dem roten Rasen, wie wir den Ascheplatz liebevoll nennen, schießen Heranwachsende ihre ersten Tore und werden Legenden geboren. Berühmte Spieler wie Fritz Walter und Helmut Rahn, dessen Tor in Bern 1954 der deutschen Mannschaft zum Weltmeistertitel verhalf, haben ihre Wurzeln im Pott. Rahn, ein gebürtiger Essener, sagte einst: „Im Ruhrgebiet wird der Fußball nicht nur gespielt, er wird gelebt." Recht hat er.

Jetzt soll diese Lebenseinstellung auf ganz Europa abstrahlen. Denn Nordrhein-Westfalen hat gleich vier von zehn Austragungsorten „ergattert“, mit Dortmund und Gelsenkirchen holen wir an mehreren von insgesamt 51 Spieltagen den Tor-Zauber ins Zentrum des Reviers. Volltreffer auf ganzer Linie? Eine Finanzspritze für eine krisengeprüfte Region? Nicht unbedingt. Das Riesengeschäft macht, wie so oft, die UEFA. Sie rechnet mit einem Umsatz von mehr als zwei Milliarden Euro und einem Gewinn von über einer Milliarde Euro. Der Steuerzahler indes muss für den Traum vom Sommermärchen 2.0 tief in die Tasche greifen. Laut Recherchen des „Spiegel“ und des ZDF zahlen Bund, Länder und Städte etwa 650 Millionen Euro.

Minutiöse Auflagen der UEFA sorgen für hohe Kosten bei den Austragungsorten im Revier

Grund sind hohe Auflagen der UEFA. In einem über 200 Seiten starken Papier legt sie fest, in was genau die Austragungsorte zu investieren haben. Das geht, so berichten jene Journalisten, die einen Blick in das nicht öffentlich zugängliche Dokument werfen konnten, von der Verfügbarkeit von zwei Haartrocknern pro Kabine bis hin zur verpflichtenden Organisation von EM-Fanfesten. Und es führt noch weiter. Wie der NDR berichtet, würden die Sonderrechte der UEFA die Städte dazu verpflichten, in sogenannten „kommerziellen Zonen“ 500 Meter rund um das jeweilige Fußballstadion politische und religiöse Demos zu untersagen.

In die konkreten Zahlen, die die minutiösen Anforderungen mit sich bringen, lassen sich nur wenige Städte schauen. Dortmund muss 24 Millionen Euro aufbringen, in Gelsenkirchen hielt sich das Rathaus mit „einem niedrigen zweistelligen Millionenbetrag“ bedeckter. „Konkretere Angaben sind derzeit leider nicht möglich. Die Partien, die in Gelsenkirchen stattfinden werden, erfordern in Teilen weitere Investitionen in den Fanzonen und im Sicherheitsbereich, die wir noch nicht abschließend beziffern können“, sagte ein Sprecher. Vom rheinländischen Köln ist bekannt, dass man hier zuletzt das Budget von knapp acht auf über 13 Millionen Euro angehoben hat - wegen der angespannten Sicherheitslage und damit verbundenen Mehrkosten.

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EM-Wirtschaftsbooster hängt stark vom Wetter und der Stimmung ab

Alle NRW-Städte eint die Hoffnung auf einen Wirtschaftsbooster. Vor allem für die Hotelbranche, die Gastronomie, den Veranstaltungssektor und den Handel. „Es dürften insbesondere die Städte wirtschaftlich profitieren, die zum einen natürlich mehrere Spiele haben, zum anderen aber auch die Mannschaften haben, die viele Fans mitbringen und Fans, die dann tatsächlich auch übernachten“, schätzt etwa Sportökonom Christoph Breuer von der Deutschen Sporthochschule die Situation ein. Weitere Rahmenbedingungen für das Konsumverhalten – und diese hat leider nur der Fußballgott in der Hand – sind erwiesenermaßen „das Wetter und die Stimmung“. Beides, so Dr. Jochen Grütters von der IHK Nord Westfalen, sei bei der Fußball-WM 2006 „herausragend“ gewesen. Klar ist: Selbst ohne Sonne satt haben Sportevents eine hohe ökomische Strahlkraft. Eine Studie der Stadt Bremen etwa zeigt, dass der regionale Ertrag bei einem Bundesligaspiel pro Zuschauerin oder Zuschauer rund 21 Euro beträgt (Verzehr, Anreise), der Kauf von Fanartikeln und Tickets kommt hierbei noch obendrauf. „Umgerechnet auf die vier EM-Spiele in der Veltins-Arena mit je 50.000 Besuchern wären das mehr als vier Millionen Euro", so Jochen Grütters.

Und das sei nur der Anfang, so der Experte. Schließlich blieben EM-Fans in der Regel länger, bei der WM 2006 lag die durchschnittliche Aufenthaltsdauer europäischer Besucher in Deutschland bei sechs Tagen, mit Übernachtung gaben sie pro Kopf rund 375 Euro aus. Denn sie kauften auch Lebensmittel, Souvenirs, gingen in Museen oder Freizeitparks, fuhren Taxi, nutzten den ÖPNV und vor allem tranken und aßen sie tüchtig in den Restaurants und Bars unserer Region.

Von der WM 2006 seien „keine nennenswerten konjunkturellen Impulse“ ausgegangen

Und was bleibt langfristig? Da scheiden sich die Finanz-Geister. Während die IHK angesichts eines Gesamt-Handelsumsatzes von zwei Milliarden positive Bilanz nach dem Sommermärchen 2006 zog, fiel der Tor-Jubel beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) deutlich verhaltener aus. Hier kam eine entsprechende Studie zu dem Fazit, dass von der WM „keine nennenswerten konjunkturellen Impulse" ausgegangen seien und sich die großen Erwartungen nicht erfüllt hätten. Einen nennenswerten Anstieg des privaten Konsums habe es jedenfalls nicht gegeben. Aber: Das Mega-Sportevent sei „ein Mosaikstein im Wandel der deutschen Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft“. Immerhin. Schließlich haben wir uns im Revier mit diesem Wandel seit den 60er-Jahren nur schwer anfreunden können, da ist jeder Stupser in die neue, in die Aufbruchsrichtung, willkommen.

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„Wir stehen auf, wir packen es an: Diese Mentalität muss spürbar sein“ (Julian Nagelsmann)

„Grau is alle Theorie – entscheidend is auf'm Platz!” lautete die legendäre Aussage von Alfred „Adi“ Preißler, einem der wichtigsten Spieler der 50er Jahre von Borussia Dortmund. Und genauso verhält es sich am Ende wohl auch bei der EURO 2024. Die Revier-Städte können die besten Voraussetzungen schaffen, die Wirtschaft den größten Optimismus an den Tag legen: Am Ende muss die Nationalmannschaft Tore schießen. Und all jene, die nicht auf dem Platz stehen, müssen bereit sein, sich auch begeistern zu lassen. Aktuelle Umfrage-Werte des Meinungsforschungsinstituts YouGov sind ernüchternd. Jeder Zweite (46 Prozent) gibt hierbei an, der Fußball-EM gleichgültig gegenüberzustehen. Elf Prozent lehnen das Turnier den Angaben zufolge ab, 32 Prozent freuen sich. Elf Prozent hatten keine Ahnung beziehungsweise machten keine Angaben.

Bundestrainer Julian Nagelsmann hat in diesem Zusammenhang kein geringeres Ziel für sich und seine Truppe definiert als den Stimmungswandel im Lande. „In der deutschen Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren schleichend ein Pessimismus eingenistet“, so Nagelsmann im Verbandsmagazin „DFB aktuell“. Das Glas sei halbleer, das Negative nehme den Raum ein. Eine erfolgreiche EM 2024 trage im besten Fall „zu einer Rückkehr des Optimismus in unserem Land bei.“ Dazu brauche es „eine Mannschaft, die eine Mentalität verkörpert, die typisch deutsch ist, die anpackt. Diese Mentalität muss spürbar sein: Wir stehen auf, wir packen es an!“

Diese Mentalität dürfte in Dortmund und Gelsenkirchen wohl besonders ausgeprägt zu finden sein, sollte der Bundestrainer noch Anschauungsmaterial für sein Coaching brauchen.

In Dortmund im BVB-Stadion (Signal Iduna Park) werden sechs Partien ausgetragen:

  • 15. Juni, 21 Uhr: Italien - Albanien (Gruppe B)
  • 18. Juni, 18 Uhr: Türkei - Georgien (Gruppe F)
  • 22. Juni, 18 Uhr: Türkei - Portugal (Gruppe F)
  • 25. Juni, 18 Uhr: Frankreich - Polen (Gruppe D)
  • 29. Juni, 21 Uhr (Achtelfinale): Sieger Gruppe A - Zweiter Gruppe C
  • 10. Juli, 21 Uhr (Halbfinale): Sieger VF3 - Sieger VF4

In Gelsenkirchen im Schalke-Stadion (Veltins-Arena) werden vier Partien ausgetragen:

  • 16. Juni, 21 Uhr: Serbien - England (Gruppe C)
  • 20. Juni, 21 Uhr: Spanien - Italien (Gruppe B)
  • 26. Juni, 21 Uhr: Georgien - Portugal (Gruppe F)
  • 30. Juni, 18 Uhr (Achtelfinale): Sieger Gruppe C - Dritter D/E/F

Sehen wir die Nationalelf im Revier?

Da das DFB-Team um Julian Nagelsmann bei der EM 2024 in Gruppe A antritt, ist ein Spiel in Gelsenkirchen nicht möglich. Die möglichen Spielorte der deutschen Mannschaft sind Berlin, Dortmund, Köln, Frankfurt oder München – je nachdem, welchen Platz sie in ihrer Vorrundengruppe erreicht.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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