Unterschätzt, wie so oft, haben Hochschulen im Revier eine besondere Historie. Und vor allem eine herausragende Rolle für den Wirtschaftsstandort
Irgendwas mit Medien, irgendwas in Berlin: Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass der Großteil meiner Mitschülerinnen und Mitschüler zwar wenig konkrete Vorstellungen von der Zukunft hatte, dafür aber umso konkretere Vorstellungen vom neuen Wohnort nach dem Abitur: einfach nur weit weg. Viele zog es in die Bundeshauptstadt, am liebsten in die coole WG nach Kreuzberg, und einen ebenso nicht unerheblichen Teil in den Süden, zumindest die, die Medizin oder Jura studieren wollten. Im Ruhrgebiet bleiben als Studierende? Absolut nicht angesagt – und offenbar auch irgendwie peinlich! Ungläubig schauten mich die anderen an, als ich verkündete, nach Bochum zu ziehen, um dort zu studieren. So würde ich ja nie den vermeintlichen Geruch nach Currywurst und Ruß aus den Haaren und meinem Lebenslauf herausgewaschen bekommen. Und auch im späteren Berufsleben verstummten solche Stimmen nicht. „Haben deine Noten für mehr nicht gereicht? Da (!) hast du studiert? Wie, solche Studienfächer werden im Ruhrgebiet angeboten?“ Dem Revier als solches wurde sehr oft die Fähigkeit, zukünftige Akademikerinnen und Akademiker umfassend auszubilden, völlig abgesprochen. Der Ruhr-Universität Bochum mit ihrer Steinklotz-Optik, an der ich meine Fächer wählte, wurde jede Möglichkeit des Wohlfühlens abspenstig gemacht. Es „nur im Pott“ zu schaffen: ein Makel. Zugeteilt von außen, ohne jede Kenntnis der Region und ihrer Hochschulen. Ein Vorurteil, auch geboren aus der Geschichte der Region.
Kaiser Wilhelm II duldete keine Universitäten im Ruhrgebiet
Tatsächlich gab es bis Mitte der 1960er Jahre im Ruhrgebiet keine einzige Hochschule. Selbst wer Studiengänge bevorzugte, die für den Bergbau entscheidend waren, musste raus aus dem Pott und mindestens bis nach Aachen, oft aber sogar bis in den Harz gondeln. Kaiser Wilhelm II, so ist es überliefert, duldete im Ruhrgebiet keine Universitäten und kein Militär. Der Regent sah in einer Verbindung von Soldaten, Arbeitern und Intellektuellen eine große Widerstands-Gefahr, die er als nicht kontrollierbar einstufte. Zugleich traute man der Region, geprägt durch Schwerindustrie und Zuwanderung, ohnehin kaum großes Bildungspotenzial zu. Ganz Nordrhein-Westfalen wies noch in den 60er-Jahren eine bundesweit extrem unterdurchschnittliche Verfügbarkeit an Studienplätzen auf. Nach damaligen Bewertungen fehlten mindestens fünf Universitäten, da man von 8.000 bis 10.000 Studierenden pro Universität ausging.
Erst in der Krise wurde der Wert von Bildung erkannt
Wie so oft in der Geschichte musste erst eine heftige Krise die Region erschüttern, um die Notwendigkeit der Veränderung zu erkennen. Als der Bedeutungsverlust von Kohle und Stahl kaum mehr aufzuhalten war, beschloss der Landtag NRW 1961 die Errichtung der Ruhr-Universität Bochum (RUB), die vier Jahre später ihren Betrieb aufnehmen konnte. Sieht man von der 1818 aufgelösten Duisburger Universität einmal ab, so ist die Hochschule in Grönemeyers besungener Heimatstadt heute die älteste Hochschule der Region. Na, also! Wer braucht schon Heidelberg, Tübingen oder Marburg, wenn er solch Historie im Hörsaal einatmen kann?
Die neue Universität passte zum Zeitgeist und wurde zum in Betonbauten gegossenen Aushängeschild eines gelungenen Strukturwandels. „Malocher-Uni“ nannte man sie, weil der Anteil von Kindern aus Arbeiterfamilien mit 16 Prozent überdurchschnittlich groß war. Die Hochschule wies erstmals eine Studienberatung und flache Hierarchien auf – dank besonders junger Professoren. Dass letzteres einzig der Tatsache geschuldet war, dass renommierte Lehrkörper das Revier und die junge Uni als unattraktiv und dunklen Fleck in der Vita ansahen, hat in der Glorifizierungsgeschichte der Ruhr-Uni wenig Platz. Warum auch? Man wird sich für eine neue Bildungsgerechtigkeit auch einmal feiern dürfen. Und das ist bis heute so geblieben. Mit rund 43.000 Studierenden zählt die RUB zu den größten Unis Deutschlands. Ob Ingenieurswissenschaften, Naturwissenschaften, BWL oder Medizin: Eine Vielzahl der stolzen 21 Fakultäten genießen ein großes Renommee.
Fünf Universitäten, 17 Hochschulen und 150 Forschungszentren bilden eine einzigartige Dichte
Und durch die Hochschule in Bochum wurde eine Art Bildungs-Kettenreaktion in Gang gesetzt. 1968 folgte die Gründung der Universität Dortmund, heute bekannt als Technische Universität Dortmund (TU Dortmund). Gut 30.000 Menschen studieren aktuell hier in rund 80 Bachelor- und Masterstudienfächern. Damit gehört auch die Hochschule in der Heimat des BVB zu den 20 größten in Deutschland. Ihre enge Verbindung zur Industrie, insbesondere durch den Technologiepark Dortmund, lassen sie ebenfalls in der Champions League spielen.
Weiter im Westen des Potts wurden 1972 die Universität-Gesamthochschule Essen und die Universität-Gesamthochschule Duisburg (ab 1994 Gerhard-Marcator-Universität) gegründet. 2003 fusionierten die beiden Hochschulen. Heute gilt die daraus entstandene Uni Duisburg-Essen als ein zentraler Träger der im Ruhrgebiet betriebenen Forschung, mit einem angesehenen Schwerpunkt auf Informatik, Medizin und Ingenieurswissenschaften. Hier studieren um die 42.000 Menschen.
Getoppt wird dieser Zulauf nur von der FernUniversität Hagen (gegründet 1974), der einzigen staatlichen Fernuniversität im deutschen Sprachraum. 76.000 Studierende büffeln hier aktuell. „Studium an der FernUniversität jetzt ohne Abitur möglich“: Mit dieser und ähnlichen Schlagzeilen kommentierten im Herbst 1990 die Medien den Beschluss der Hochschule, erstmals eine Einstufungsprüfung anzubieten. Diese Variante ermöglichte berufserfahrenen Interessierten ohne Hochschulreife den Zugang zu einem Studium mit dem Abschluss Diplom oder Magister Artium. Hier nahm die FernUniversität mit Abstand den Spitzenplatz unter den Universitäten in NRW ein.
Die Liste der akademischen Bildungsstätten im Ruhrgebiet, die seit den 60er Jahren aus dem Boden schossen, ist natürlich noch deutlich länger als die kleine Auswahl hier zeigt. 17 Hochschulen und 5 Universitäten gehören zum Revier, ergänzt wird die einzigartig dichte Bildungslandschaft um rund 150 Forschungs- und Innovationszentren und Institute. Von dieser Vielzahl profitieren nicht nur Studierende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern auch Start-ups und Unternehmen. Bildung ist Macht. Vor allem Wirtschaftsmacht. Auch wenn so viele Außenstehende gern andere Regionen Deutschlands als blühende Wissenslandschaft sehen.
Hunderttausende Arbeitsplätze und ein Einkommenseffekt von 12,3 Milliarden Euro
Die Finanzstärke beweist eine Studie, die Forscherinnen und Forscher der Universität Heidelberg vor knapp zwei Jahren präsentierten. Demnach erzeugt jeder einzelne Euro, den Nordrhein-Westfalen seinen Universitäten als Grundfinanzierung zur Verfügung stellt, eine Wertschöpfung von 4,01 Euro. Heißt: Bei einem Nettomitteleinsatz des Landes in Höhe von ca. 3,2 Mrd. Euro erzielten die nordrhein-westfälischen Universitäten im Betrachtungsjahr 2019 einen Gesamteffekt von knapp 13 Mrd. Euro. Damit tragen die Universitäten mit 1,5 Prozent zur Bruttowertschöpfung in unserem Bundesland bei. Zudem sorgen sie – direkt und indirekt – für über 175.000 Arbeitsplätze in NRW und erzeugen damit einen sogenannten Einkommenseffekt von 12,3 Mrd. Euro.
Außerdem gibt es positive Wirkungen, die nicht in Geldwerten abgebildet werden können, etwa auf das verrußte Image. Vor allem junge Menschen, die ins Ruhrgebiet gezogen sind, bewerten ihre neue Heimat als sehr offen und gastfreundlich, wie aktuelle Umfrageergebnisse zeigen. Vor allem die vielen Hochschulen, so die Befragten, trügen maßgeblich zu diesem Bild als moderne, agile und bunte Region bei. Und: Kaum eine andere Geschichte im Revier steht so sehr für eine gelungene Transformation wie die der Hochschullandschaft. Von Null auf Alles: Jede / jeder 20. im Ruhrgebiet studiert und hat eine Auswahl aus stolzen 400 Studiengängen getroffen, die in nur einer Region gebündelt angeboten werden. Niemand, der studieren will, muss heute mehr seine Koffer packen, um aus dem Vollen zu schöpfen für die Zukunft. Jetzt heißt es mindestens genauso oft: „Ich mach irgendwas im Ruhrgebiet“.
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