Wie das Revier sich allen wirtschaftlichen Krisen zum Trotz immer wieder neu erfindet

„Angst wurde im selben Moment wie die Menschheit geboren. Und da wir sie niemals meistern können, müssen wir lernen, mit ihr zu leben – so wie wir gelernt haben, mit Stürmen zu leben.“ Der brasilianische Schriftsteller und Poet Paulo Coelho („Der Alchemist“) hat sicher nicht an die Bewohnerinnen und Bewohner des Ruhrgebiets gedacht, als er diese berühmten Worte niederschrieb. Doch seine weisen Worte könnten tatsächlich unser Lebensmotto sein. Aber: Wir haben nicht nur gelernt, die Furcht anzunehmen, wir können sie sogar umwandeln, in Energie, mit der wir Neues wagen und erschaffen.

„German Angst“ als Stereotyp, der uns Mutlosigkeit und Zögerlichkeit nachsagt

Doch was ist sie eigentlich genau, diese Angst? Das Wort selbst stammt vom lateinischen „angere“ sowie vom griechischen Verb „agchein“ ab. Übersetzt bedeuten beide „beunruhigen, beklemmen, quälen“. Das Wort hat sich sogar international durchgesetzt, etwa im Englischen als „angst“. Selbst eine sogenannte „German Angst“ gibt es, die uns Deutschen nachsagt, großen Entscheidungen besonders zögerlich gegenüberzustehen und ein extremes Sicherheitsbedürfnis häufig zur Mutlosigkeit anwachsen zu lassen. Offenbar hat dieser Stereotyp die Mentalität der Ruhris nicht mit eingespeist. Aber dazu später mehr.

Angst hat viele Gesichter, kann sich aus einer realen Gefahr heraus ergeben oder wird ohne akute Bedrohung erfunden. Jeder von uns empfindet beide Formen – und erwiesen ist auch, dass die zweite Kategorie, die sogenannte trait anxiety, vor allem in Form von Existenzängsten aktuell zunimmt. Politische und gesellschaftliche Geschehnisse ängstigen uns alle. Hohe Preise, teurer Wohnraum und umfangreiche Sparpakete waren 2023 in einer großen Umfrage die größten Sorgenfelder der Deutschen. Anfang 2024 kamen zur Inflationsangst noch die Furcht vor Kriegen, einer Spaltung unserer Gemeinschaft und Extremismus in all seinen Facetten hinzu.

Bei allen sinkt das Vertrauen, nur ein Bundesland vertraut stark auf die Politik

Zugegeben: Auch in Nordrhein-Westfalen war die Stimmung in den letzten Jahren Studien zufolge schon besser. Das Bundesland landet aktuell nur noch auf Platz 7 der zuversichtlichsten Bundesländer. Solide, aber mehr nicht. Bemerkenswert aber ist: In keinem anderen Bundesland ist das Vertrauen so groß, dass diese Krisen zu meistern sind. In Zeiten wachsender Verdrossenheit den regierenden Parteien gegenüber glaubt ein Großteil der Menschen in Nordrhein-Westfalen weiter daran, dass Politikerinnen und Politiker auch in dieser dunklen Zeit die richtigen Entscheidungen treffen werden. Und selbst wenn „die da oben“ es vermasseln, haben wir ja immer noch uns. Das war schon unter Tage so. Und hat vor allem das Ruhrgebiet immer aus den verschiedensten Tälern wieder emporsteigen lassen.


Einst dünn besiedelt und hauptsächlich landwirtschaftlich geprägt

Wenn man heute auf der A 40 im Stau brütet, am Hauptbahnhof Duisburg Hunderte Züge in alle Richtung fahren sieht oder durch eines der zahlreichen Einkaufszentren in Oberhausen, Essen oder Bochum bummelt, kann man es sich kaum noch vorstellen. Dass hier einmal größtenteils Kühe grasten, Schweine grunzten und kleine Höfe statt großen Siedlungen ein verschlafenes Bild zeichneten. Noch Ende des 18. Jahrhunderts war das Ruhrgebiet dünn besiedelt und hauptsächlich landwirtschaftlich geprägt. Einzelne Dörfer und Gehöfte dominierten das Bild, verbunden durch schlechte Straßen. Dortmund oder Duisburg als damalige Großstädte wiesen nur je 5000 Einwohnerinnen und Einwohner auf, Rekord-City war damals Mülheim an der Ruhr mit rund 10.000 Bewohnerinnen und Bewohnern. Im heutigen Oberhausen verarbeiteten Malocher bereits Eisenerz im Hochofen, erste Zechen, etwa in Witten oder Hattingen bauten schon Kohle ab, aber erst die ersten Dampfmaschinen brachten auch unserer Region die Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert. Und das in Rekordgeschwindigkeit.

Der Bergmann mit rußverschmiertem Gesicht als Ikone mehrerer Generationen

Ende des 19. Jahrhunderts sind es dann bereits stolze 60 Millionen Tonnen, die von Bergleuten gefördert werden. Zugleich findet das Ruhrgebiet sein Herz in der Schwerindustrie. Die ersten Arbeitersiedlungen entstehen und das Bild des hart arbeitenden Bergmanns mit dem rußverschmierten Gesicht wird zur Gallionsfigur einer neuen Identität. Rauchende Schlote und Schornsteine über Bergmannssiedlungen und der schwarze Dreck, der sich auf Fensterbänken und frisch gewaschener Wäsche festsetzte, setzen sich für immer in den Köpfen fest, als das, was das Ruhrgebiet ist: bodenständig, nicht so schön, aber ehrlich, malochend, uneitel. Noch etwas Fußball und Taubenzucht dazu, fertig war alles, was wir brauchten.

Dass die Menschen damals schon große Ängste hatten, wird bei der Verklärung gern ausgeblendet. Dabei war die Angst unter Tage gegenwärtig. Die Arbeitsbedingungen waren lange so schlecht, so gefährlich, dass der viel besungene Zusammenhalt schlichtweg überlebensnotwendig war. Und auch die Existenzangst, die so gern als Phänomen dieser Tage deklariert war, erfasste die Kumpel und ihre Familien schnell. Viel schneller, als sie den Aufstieg gemeistert hatten.

Zechen-Schließungen: Schon in den 50er Jahren ging es los – Abschwung statt Aufschwung

Die Kohlekrise der 1950er Jahre zeigt erstmals die Verwundbarkeit der einseitig ausgelegten Industriestruktur. Und bringt den Riesen (die 1956 geförderten 124,6 Millionen Tonnen Ruhrkohle machten mehr als 82 Prozent der bundesrepublikanischen Steinkohlenförderung aus) gehörig ins Wanken. Spätestens jetzt wird auch eine neue Angst geboren: die Angst vor dem Bedeutungsverlust. Importierte Billigkohle und die aufkommende Ölheizung verringern die Nachfrage nach heimischer Steinkohle dramatisch. Die Bergwerke fördern mehr Kohle, als nachgefragt wird. Es gibt „Feierschichten“ und später Zechen-Stilllegungen. Über 100.000 Bergleute verlieren ihre Arbeit. „Wir stehen vor einer Strukturveränderung, die wir politisch gestalten müssen", erkannte Bundeskanzler Konrad Adenauer die Notwendigkeit umfangreichen Handelns. Ludwig Erhard, damaliger Bundeswirtschaftsminister, warnte: „Ein ganzer Berufsstand ist in seiner Existenz bedroht." Seine Worte unterstrichen die Tragweite der Krise.

Stärkung der Hochschul-Landschaft und neue Arbeitsperspektiven in der Chemiebranche

Die Bundesregierung reagiert mit Hilfsprogrammen und Schaffung der ersten Gesellschaft zur Förderung des Bergbaus, doch das Zechensterben lässt sich nur verlangsamen, nicht aufhalten. Walter Arendt, späterer Arbeitsminister, betonte: „Was die Menschen im Ruhrgebiet brauchen, ist Hoffnung und Perspektive."

Aufgeben? Keine Option! Ob ahnungslos oder stark: Man bleibt, wie so oft, standhaft im Revier. Vor allem mental. Kleinere Brötchenbacken konnte man ohnehin, wer nicht von ganz oben kommt, fällt auch nicht so tief. Und packt zu statt ein. Oder wie Erhard es auf den Punkt brachte: „Wir dürfen die Augen vor dem Fortschritt nicht verschließen.“ Und tatsächlich: Hochschulen und Forschungseinrichtungen werden gestärkt, um Bildung und technologische Entwicklungen zu pushen. Die 1962 gegründete und 1965 eröffnete Ruhr Universität Bochum mausert sich schnell zu einer der größten Universitäten Deutschlands, heute studieren hier rund 38.000 Frauen und Männer. Wie so oft im Ruhrgebiet, war und ist sie keine Schönheit, mit ihrer Betonlandschaft und den teils bröckelnden Fassaden, aber ein Aushängeschild in Sachen Forschung und Vielfalt an wissenschaftlichen Studienfächern. Und sie ist nur eine von insgesamt 77 Hochschulen in NRW. Tatsächlich besuchen ein Viertel alle Studierenden eine Universität in unserem Bundesland.

Gleichzeitig zu dieser aufblühenden Bildungslandschaft entstehen in der ersten großen Strukturkrise des Ruhrgebiets auch andere Knospen für die Zukunft. Neue Industriezweige, etwa in der Chemiebranche und im Maschinenbau, sowie der Ausbau des Dienstleistungssektors, schaffen neue Arbeitsperspektiven. Zudem nimmt die Bedeutung der Elektrotechnik zu.

„Die Stahlindustrie steht vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte“ (Helmut Schmidt, damaliger Bundeskanzler)

Doch mit der Stahlkrise der 1970er und 80er Jahre folgt schon der nächste Schlag. Globaler Wettbewerb, Überkapazitäten und der technologische Wandel setzen der bis dahin florierenden Stahlerzeugung zu. „Die Stahlindustrie steht vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte", sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt. Und er sollte Recht behalten: Betriebe müssen umstrukturieren oder schließen, und wieder wird die Region von massiven Jobverluste erschüttert. Bis 1987 sinkt die Beschäftigtenzahl in der Stahlbranche im Ruhrgebiet von 250.000 auf 140.000, wie der Verband der Eisen- und Stahlindustrie berichtete.

Thyssen-Chef Dieter Spethmann betonte die Dringlichkeit einer Anpassung: „Wir müssen innovativer, flexibler und produktiver werden.“ Sagt sich leicht, wird es aber nicht. Tonnenschwer lastet der Druck auf ganzen Generationen von Stahlarbeitern, ihre Entschlossenheit, voranzukommen, kann ihnen aber auch diese Krise der Region nicht nehmen. Fortan setzt das Ruhrgebiet nicht mehr allein auf Kohle und Stahl, sondern etabliert sich in neuen, aufstrebenden Bereichen wie der Umwelttechnik oder der Mikroelektronik. Frühere Schwächen werden vielfach in Stärken umgemünzt. Besonders anschaulich wird die Wendung zur Innovation in Projekten wie dem Technologiezentrum Dortmund, das seit den 1980er Jahren zum Inkubator für Start-ups avancierte.

Dortmund als eines der führenden Technologiezentren Europas

„Es war weniger unser Ansatz, Unternehmen aus anderen Regionen nach Dortmund zu holen, um die weggebrochenen Arbeitsplätze zu kompensieren. Sondern unser Weg war es, über Neugründungen und Stärkung der bestehenden Unternehmen eine neue Wirtschafts- und Strukturpolitik in Dortmund zu initiieren und neue Arbeitsplätze zu schaffen“, so der ehemalige Geschäftsführer des TZDO, Guido Baranowski, in einem Interview. Damals, so Baranowski, „haben wir gesagt, wenn es uns gelingt, hier auf dem Campus 1.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen, können wir sehr zufrieden sein. Heute wissen wir, dass wir annähernd das 15-Fache geschaffen haben, nämlich rund 13.500 Arbeitsplätze in über 300 Unternehmen.“ Der Strukturwandel funktioniere über Köpfe, lautet die Devise des TZDO. Und diese müsse man nicht nur gut im Ruhrgebiet ausbilden, sondern in der Region dann auch halten können. Und das können wir! Heute gehört das, was in Dortmund so klein begann, zu den führenden Technologiezentren in Europa.

Übrigens: Auch der Wirtschaftsbereich der Logistik nimmt seit den 80er-Jahren rasant an Wachstum zu. Allein das Güterverkehrszentrum in Duisburg ist heute das größte Europas. Ebenso wird das Gesundheitswesen im Ruhrgebiet zu einem weiteren Erfolgsfeld. Das Universitätsklinikum Essen etwa ist ein Beispiel für Exzellenz in Forschung und Patientenversorgung, und mehrere Biotech-Start-ups sind aus der engen Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Forschungseinrichtungen hervorgegangen. Was ebenfalls nur wenige wissen – oder in typischer Ruhrgebietler-Bodenständigkeit einfach nicht oft genug stolz gesagt wird: Auch in der IT-Branche hat sich das Revier in den letzten Jahren stark profiliert, besonders im Bereich der Cybersecurity.

Vom “Hemmschuh” zum Vorbild

Als „Hemmschuh der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ bezeichnete das Institut der deutschen Wirtschaft vor einigen Jahren das Ruhrgebiet. Das tat weh. Und sorgte für viele Diskussionen und noch mehr Unmut. Aufregen können wir uns gut. Die Wut in Trotz und dann in Energie verwandeln noch mehr. Sicher, es schmerzt manchmal, dass wir den Eindruck haben, mit der Schließung der letzten Zeche, Prosper Haniel Ende 2018, endgültig unsere Kern-Identität verloren zu haben. Doch es schmerzt nur deshalb, weil wir zu oft nicht erkennen, dass wir gar nichts verloren haben. Die, die uns als Region einst diesen gefühlten Ruhm eingebracht haben, sollten wir immer in Ehren halten. Aber wir dürfen auch sagen, dass wir die einst geborene Tradition des Malochers behalten haben. Sie kommt heute eben einfach in anderen Bereichen zur Geltung.

Mehr als 70% der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind heute im Dienstleistungssektor beschäftigt. Auch die Arbeitslosenquote hat sich von den Hochzeiten zu Beginn des Strukturwandels signifikant verringert. „Das Ruhrgebiet ist ein Stück Deutschland, in dem in besonderer Dichte deutlich wird, wie der Wandel von einer industriellen zu einer nachindustriellen Gesellschaft gestaltet werden kann“, sagte Norbert Lammert, ehemaliger Bundestagspräsident und gebürtiger Bochumer, einmal. Recht hat er!

Im Revier ist die Vergangenheit nie nur Geschichte – sie ist ein Fundament für die Zukunft, auf dem mit hartnäckiger Zuversicht neue Visionen erbaut werden. Sich von Angst lähmen lassen? Das sollen die anderen machen. Unsere Nerven sind, wie sollte es anders sein, aus Stahl.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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