Im Ruhrgebiet kommen viele unterschiedliche Menschen zusammen – wenn es einen Ort gibt, der diesem in nichts nachsteht, dann ist das die Schule. Hier treffen Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer aus verschiedenen Kulturen, gesellschaftlichen Schichten und mit vielfältigen Lebensläufen aufeinander. Dass es da zu Reibereien, Problemen und Konflikten kommt, ist kein Wunder. Immer öfter münden Auseinandersetzungen aber in Gewalt – egal ob unter Schülerinnen und Schülern oder gegen Lehrkräfte. Seit der Corona-Pandemie verzeichnen Schulen immer häufiger Situationen, in denen es zu Gewalt verschiedener Formen kommt. Laut dem Philologenverband NRW steigt auch die Gewalt gegen Lehrkräfte weiter an: In einer Befragung unter Lehrerinnen und Lehrern kam der Verband zu dem Ergebnis, dass fast jede zweite Gymnasiallehrkraft und 76 Prozent der Gesamtschullehrkräfte in den letzten Jahren Angriffe oder Anfeindungen unterschiedlicher Form erlebt haben. Eine traurige Statistik, dabei sollen Schulen in Nordrhein-Westfalen und dem Ruhrgebiet sichere Orte sein.

Eine Schulleiterin, die offen über die Probleme an Schulen spricht, ist Sabine Stanicki aus Bochum. Gar nicht so selbstverständlich, weil es für viele Bildungseinrichtungen noch immer ein Tabu-Thema und die Angst vor einem schlechten Ruf oder sinkenden Anmeldezahlen groß ist. „Steigende Gewalt an Schulen ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und findet so gut wie überall statt“, sagt Sabine Stanicki, die an der Maria Sibylla Merian-Gesamtschule in Bochum-Wattenscheid arbeitet. „Wir müssen als Schule dem Thema offen entgegentreten und es gemeinsam mit Lehrern, Schülern, Eltern und den Kommunen angehen.“ Auch wenn es an ihrer Schule in der Vergangenheit immer mal wieder Vorfälle gegeben hat, fühlt sich Sabine Stanicki an ihrer Schule sicher und wohl. „Und ich glaube, dass es meine Kolleginnen und Kollegen auch tun“. Bis jetzt gab es auch keine tätlichen Angriffe auf Lehrkräfte. Die Gründe dafür sind ein offener Umgang auf Augenhöhe zwischen Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften, Verständnis, deeskalierende Maßnahmen und viel Engagement über den Lehrplan hinaus.

„Wir stellen vermehrt fest, dass junge Menschen oft kein Rüstzeug haben, wie sie mit Konflikten richtig umgehen können und eine mangelnde Impulskontrolle besitzen“

Sabine Stanicki, Schulleiterin Maria Sibylla Merian-Gesamtschule

Herausfordernde Lage

Die Maria Sibylla Merian-Gesamtschule ist laut Schulsozialindex ein „Standort-Typ 6“ – eine Schule in einer „herausfordernden Lage“. Dort gehen rund 1300 Schülerinnen und Schüler zur Schule und es unterrichten dort 130 Lehrerinnen und Lehrer. Darüber hinaus ist die Maria Sibylla Merian-Gesamtschule eine inklusive Schule und fördert gemeinsames Lernen. „Wir sind mit unserer Gesamtschule nicht nur mitten im Ruhrgebiet, sondern auch mitten im Leben“, erklärt die Schulleiterin. Viele junge Menschen machen an der weiterführenden Schule erste Erfahrungen: Die erste große Liebe finden, Freundschaften schließen, aber auch erste Konflikte austragen. Häufig werden dabei private Auseinandersetzungen mit in die Schule gebracht. In den letzten Wochen gab es beispielsweise Probleme mit einer Gruppe von Mädchen aus der sechsten und achten Klasse, die sich untereinander gestritten und geschlagen haben. „Wir stellen vermehrt fest, dass junge Menschen oft kein Rüstzeug haben, wie sie mit Konflikten richtig umgehen können und eine mangelnde Impulskontrolle besitzen“, erzählt Sabine Stanicki. Aber auch Unwissenheit unter den Schülerinnen und Schülern kann zu gefährlichen Situationen führen. Im letzten Jahr trug ein Junge (16) ein Springmesser mit sich und verletzte eine Mitschülerin. Dies geschah zwar unabsichtlich, hatte aber ernste Folgen für alle Beteiligten: „Es war nicht bewusst und keine aggressive Absicht, umso dramatischer ist es, was letztendlich passiert ist.“ Der Schüler mit dem Springmesser wurde von der Schule suspendiert.

 

Um der steigenden Gewalt entgegenzuwirken, engagieren sich Sabine Stanicki und ihr Kollegium weit über gesetzliche Vorgaben und über den Feierabend hinaus. Dabei setzen sie auf deeskalierende Maßnahmen wie beispielsweise „Time-Out-Rooms” für betreute Stillarbeit, um bei Störenfrieden den Lernschutz der Gruppe im Unterricht zu sichern. An der gesamten Maria Sibylla Merian-Gesamtschule herrscht außerdem Handyverbot, damit Schülerinnen und Schüler weniger vom Unterricht abgelenkt werden und damit weniger Konfliktsituationen entstehen, wenn es im WhatsApp-Chat oder über Social Media zum digitalen Schlagabtausch kommt.

Wer schlägt, der geht

Für Sabine Stanicki ist aber auch klar, dass bei diesem Thema die Eltern mit ins Boot geholt werden müssen, denn sie haben einen großen Einfluss auf das Verhalten ihrer Kinder. „Die Zusammenarbeit mit den Eltern der Schülerinnen und Schüler ist für unsere Arbeit essenziell“, sagt Sabine Stanicki. „Wir versuchen, sie so gut wie möglich in unsere Prozesse miteinzubeziehen und Verständnis dafür zu schaffen, warum wir manche Entscheidungen gegenüber ihrem Kind treffen müssen.“ Um eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, unterschreiben Eltern und Schülerinnen und Schüler bei der Einschulung in der fünften Klasse einen symbolischen Vertrag, bei dem sich die jungen Menschen verpflichten, im Schulalltag keine Gewalt einzusetzen. Der Vertrag klärt auch über die Konsequenzen bei Regelverstößen auf. Ganz nach dem Motto: „Wer schlägt, der geht!“

Das Kollegium der Maria Sibylla Merian-Gesamtschule sucht darüber hinaus aktiv den Dialog mit den Eltern. Einmal im Jahr organisieren sie ein Elternpflegschaftsseminar am Wochenende, bei dem Eltern der Schulleitung und den Lehrkräften ihre Fragen stellen und ihre Wünsche äußern können. Gemeinsam wird dann an Lösungen gearbeitet.

Einen großen Anteil leisten auch die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen der Schule. Neben Sprechstunden in der „Oase“ organisieren sie Trainings für Schülerinnen und Schüler, bei denen es um respektvolles Miteinander und gegen Ausgrenzung geht. Dabei beziehen sie besonders Kinder mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung mit ein. Im sogenannten „Anker-Raum“ können Schülerinnen und Schüler Ruhe und Zuflucht finden und in geschützter Atmosphäre „herunterfahren“ und sich abreagieren. Ein Konzept, um Überforderungssituationen im Schulalltag zuvorzukommen. Hier lernen die Kinder und Jugendlichen sich über ihre Gefühle klar zu werden und damit besser umzugehen – bevor es zu emotionalen Übersprungshandlungen kommt. Dabei unterstützen beispielsweise Erzieherinnen und Erzieher sowie Rehabilitationspädagoginnen und -pädagogen, die mit den jungen Menschen ins Gespräch kommen und entspannende Spiele oder Bewegungseinheiten anbieten.

Sabine Stanicki, Schulleiterin der Maria Sibylla Merian-Gesamtschule in Bochum, Foto: Christof Köpsel / FUNKE Foto Services

Ein besonderes Präventionsprojekt, welches die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen gemeinsam mit der Polizei in Bochum angestoßen haben, ist „Ohne Gewalt stark“ für Schülerinnen und Schüler ab der neunten Klasse. Hierfür kommen Polizisten an die Gesamtschule und klären darüber auf, was beispielsweise als Waffe gilt, was es bedeutet, strafmündig zu sein und welche Befugnisse die Polizei hat, bei Gewaltsituationen einzugreifen.

Die Beispiele zeigen, dass Sabine Stanicki und ihr Kollegium sich mit vielen Maßnahmen und Projekten engagieren, damit die Maria Sibylla Merian-Gesamtschule in Bochum ein Ort bleibt, an dem sich Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte gleichermaßen sicher und wohl fühlen. „Auch wenn nicht immer alles gut läuft oder ich mal wieder Konfliktgespräche führen muss, erlebe ich sehr große Freude an meinem Beruf“, sagt Sabine Stanicki. Sie würde sich für ihren Arbeitsalltag und bei der Umsetzung von Initiativen aber noch mehr Unterstützung von der Landesregierung und den Kommunen wünschen. Schulen haben zu wenig Handhabe über Personal und finanzielle Mittel und können dadurch den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler nicht gerecht werden. „Trotz der vielen Arbeit und der Verantwortung bin ich aber froh, dass wir an unserer Schule viele positive Dinge bewegen können.“ Auch rückblickend würde sie den Beruf als Lehrerin oder mittlerweile als Schuldirektorin immer wieder wählen.

Anna Lea Kopatschek

Letzte Kommentare