Aufregend ist die Sicht auf das Wasser nicht gerade. Ein Ruderboot schwimmt den leichten Wellen davon und verschwindet mit dem weiteren Flusslauf zwischen den dicht begrünten Ufern in einer leichten Linkskurve. Am Ufer liegen zwei junge Frauen auf Handtüchern und lassen sich in den ersten wirklich warmen Tagen des Jahres bräunen. Der Sommer ist endlich da. Hier an der Ruhr in Essen sieht alles nach Entspannung aus. Die Leute genießen die Sonne und immer wieder mit einem Fuß im Wasser auch eine leichte Abkühlung. Das Ruhrtal mit seinen weitläufigen grünen Wiesen und ab und an manch künstlichen Strand ist längst zu einem der größten Naherholungsgebiete in Nordrhein-Westfalen geworden. Doch für Dagmar Friedrich ist dieser Ort eine echte Qual: Sie leidet seit vielen Jahren an Thalassophobie – der Angst vor tiefen Gewässern.

Während im Sommer die Ruhr für die meisten Meschen hier zur Entspannungsoase wird, holt der Fluss in Dagmar Friedrich tiefe Ängste hervor. „Ich habe Angst vor dem, was im Wasser sein könnte. Ich sehe ja nicht, was dann unter mir schwimmt. Als Kind hatte ich schon immer Angst im Meer, wenn wir mit den Eltern mal an die Nordsee gefahren sind. Mit 19, 20 Jahren wurde das dann immer schlimmer”, erklärt Dagmar Friedrich.  Mittlerweile reiche es schon, die Ruhr nur aus einiger Entfernung zu sehen, um eine Panikattacke in ihr auszulösen, meint sie. Kleine Bachläufe seien unproblematisch – sofern der Grund zu sehen ist. Ausprobieren möchte sie es aber lieber nicht.

Ehemann starb an Krebs

„Die Ruhr habe ich jetzt bestimmt seit 8 Jahren nicht mehr gesehen. Dabei wohne ich direkt nebenan.” In Essen-Kettwig lebt Dagmar Friedrich seit 26 Jahren. Damals ist sie der Liebe wegen hergezogen. Doch der Mann starb vor zehn Jahren an Krebs, Kinder haben sie nie welche bekommen. Mit dem Tod ihres Ehemanns verschlimmerte sich auch ihre Angststörung: „Seitdem muss ich immer daran denken, was ist, wenn ich im Wasser verschwinde. Es ist verrückt, ich weiß.” Die Ruhr wirkte damals so unberechenbar groß auf sie. Manchmal, erzählt Dagmar Friedrich, habe sie das Gefühl gehabt, die Ruhr werde breiter und würde ganze Landstriche in sich verschlingen. Immer nur ein paar Zentimeter. Aber bald sei der Fluss nah bei ihr. Da hat sie beschlossen, einfach nicht mehr ans Ufer zu fahren. Drin geschwommen ist sie ohnehin nie.

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Nachts dreht sie den Hauptwasserhahn ab

Und auch zu Hause versucht sie große Wassermassen zu vermeiden. „Ich dusche nur, immer sehr kurz mit Pause, damit das Wasser auch ordentlich abfließen kann.” Der Wasserabfluss ist mit einer Verblendung versehen, damit sie nicht ins Rohr gucken muss. Jeden Abend kippt sie Rohrreiniger in den Abfluss, damit bei längerem Duschen nicht doch die Gefahr besteht, dass das Wasser sich in der Duschtasse sammelt. Für die Nacht dreht sie den Hauptwasserhahn ihres Hauses ab.

Als Dagmar Friedrich noch ein kleines Mädchen war, zwang der Vater sie dazu, schwimmen zu lernen. „Mein Vater war damals Rettungsschwimmer und hat sehr viel Wert daraufgelegt, uns das Schwimmen beizubringen. Wir sind dann immer ins Freibad oder im Sommer an die Nordsee und dann hat er uns ins Wasser geworfen.” Dagmars älterer Bruder Max wird das Schwimmen zur Passion. Erst versucht er sich in Wettkämpfen zu behaupten, dann unterrichtet er Jugendgruppen. „Bis heute macht er Wassergymnastik mit einer kleinen Seniorengruppe und schwimmt seine Bahnen.” Max wohnt mittlerweile seit 20 Jahren an der Nordsee in Krummhörn. Die raue Nordsee hat ihn dorthin gezogen. Für Dagmar Friedrich ist das nicht vorstellbar. Sie telefoniert viel mit ihrem Bruder, besucht hat sie ihn in all der Zeit gerade ein einziges Mal. Die Nähe der Nordsee mache ihr zu schaffen.

Ein letztes Mal den Bruder besuchen

Therapien habe die gelernte Altenpflegerin viele ausprobiert. „Nichts hat wirklich geholfen”, klagt sie. „Irgendwann habe ich es dann einfach aufgegeben. Ich lebe damit, ohne Wasser zu leben.” Sie lacht dabei, so als sei es nur eine Kleinigkeit, auf die sie verzichten würde. Doch was ist mit Kochen, Abwasch, Wäsche waschen, auf die Toilette gehen? „Nein, kochen ist kein Problem. Das Wasser ist da ja im Topf, das ist übersichtlich und bereitet mir keine Probleme. Wenn ich auf die Toilette gehe, versuche ich nicht, vorher reinzugucken. Da kommen mir schon mal komische Gedanken. Aber das kann ich bisher dann immer gut ausblenden”, erklärt Dagmar Friedrich. Und nachts drehe sie ja das Wasser komplett ab.

Doch große Gewässer, wie die Nordsee oder die Ruhr, die will sie wirklich nicht mehr in echt sehen. Manchmal glaubt Dagmar, ihre Angst unter Kontrolle zu haben, dann sieht sie sich alte Fotos an: Familienurlaub an der Nordsee, Schwimmen in Freibad, Spazierengehen an der Ruhr. Die Fotos gefallen ihr nicht. Sie spricht von einem Knoten, der sich beim Anblick der Fotos in ihrer Brust bilde. Dann legt sie die Bilder in einen Karton, den sie in einen Schrank im Keller verstaut – möglichst weit weg. Dann bekommt die 59-Jährige auch wieder Luft und der Knoten löst sich. Mit der Ruhr hat Dagmar Friedrich Frieden gemacht: „Die muss ich nicht mehr in meinem Leben haben. Wir existieren einfach beide und versuchen uns gegenseitig zu ignorieren.” Immer wieder versucht sie mit einem kleinen Scherz ihre Situation zu verharmlosen. Doch eine Sache beschäftigt sie dann doch mehr als sie anfangs zugeben möchte: „Ich würde gerne noch einmal meinen Bruder besuchen. Vielleicht treffen wir uns ja auf halber Strecke. Vielleicht geht das.” Allein dafür will sie es noch einmal mit einer Therapie versuchen und versucht mithilfe von autogenem Training ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen. Und wer weiß, vielleicht gehe sie dann doch irgendwann wieder an der Ruhr spazieren.

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