Meine Kinder können es kaum glauben und sehen mich deshalb oft an, als sei ich im alten Rom geboren: Doch ich bin tatsächlich noch in einer Zeit ohne Internet, ohne Handy – und in den ersten Jahren sogar ohne Privatfernsehen aufgewachsen. Und dass ich heute den journalistischen Beruf ausübe, habe ich tatsächlich noch einer vor zwei Jahrzehnten mühsam im Copyshop ausgedruckten und per Post verschickten Bewerbung zu verdanken. Ein Digital Native soll ich zwar, betrachtet man mein Geburtsjahr, trotzdem sein, sagen zumindest Soziologen. Und beruflich mache ich (hoffentlich) nicht den Eindruck, noch der Floppy Disk hinterherzutrauern.

Per Algorithmus an den Bildschirm gefesselt

Aber privat fühle ich mich bei der Nutzung im Vergleich zu meinen Töchtern trotzdem eher wie ein Digital Dummy. Vor allem, wenn es um TikTok geht. Ich gestehe: Ich habe noch nie ein Video auf der Plattform veröffentlicht. Ich habe noch nie etwas nachgetanzt. Ich habe auch noch nie stundenlang auf meinem Smartphonebildschirm rumgewischt, um ein Video nach dem nächsten anzuschauen. Bis vor einigen Wochen, als ich mir eine kurze Sequenz über einen tollpatschigen Hundewelpen angeschaut habe. Natürlich hatte ich schon vom berühmten Algorithmus gehört, der Likes, Hashtags, Kommentare, Shares, Standorte etc. auswertet und entsprechende Inhalte ausspielt.

224 Stunden verbringen Jugendliche im Durchschnitt im Internet, Symbolfoto: Freepik

 

Doch wie blitzschnell das geht, das hatte ich unterschätzt. Irgendwann war es tatsächlich 1 Uhr. Da wusste ich, dass es stimmt, was Expertinnen und Experten sagen: Man wird quasi über Nacht in den Bann gezogen. Wenn es um süße Tiere oder harmlose Lip Synchs geht, könnte man das noch in Kauf nehmen. Doch immer häufiger und immer stärker leiten Hass und Radikalisierung Userinnen und User sozialer Medien tief in den Tunnel.

Zehntausende Likes für rechtes Gedankengut

Extrem rechtes Gedankengut werde dort als cool präsentiert, so Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank, die in ihrem „TikTok-Report“ die Radikalisierungstendenzen auf der Social-Media-Plattform untersucht hat. Unter den zehn reichweitenstärksten Politikerkonten seien allein sechs von der AfD. AfD-Politiker Maximilian Krah etwa inszeniert sich dort als Jugend-Psychologe mit Videos, die sich an „echte“ junge Männer richten. Schon im Titel seiner Werke liefert Krah Feindbilder und zugleich Anleitungen, sich von diesen abzugrenzen. Von der Ampelregierung („Die Ampel hasst dich“), von der Geschlechterforschung („unnütze Gender-Studenten"), von der deutschen Erinnerungskultur („Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher“). Auch der ohnehin schon grenzwertige Tradwife-Trend, der dazu animiert, als Mutter und Ehefrau in einem patriarchalen Familiensystem mit klar definierten Geschlechterrollen Erfüllung zu finden, wurde sofort von als gesichert rechtsextremistisch eingestuften Gruppierungen eingenommen. Influencerin Candy etwa, Mitglied der Jungen Alternative Thüringen, verbindet Tradwife-Ästhetik (Kleidung und Frisur im 50er-Jahre-Stil) und Inhalte mit direkter AfD-Werbung. Und kassiert mehrere zehntausend Likes pro Beitrag.

Mutproben nehmen heute eine neue Dimension an. Symbolfoto: Getty Images/Tetra images RF

 

Über TikTok und Co. kommen Jugendliche auch mit salafistischen und islamistischen Predigern in Kontakt sowie antisemitischer Propaganda. Einige der Prediger werden längst vom Verfassungsschutz beobachtet. „Lehrkräfte berichten, wie Schülerinnen und Schüler plötzlich mit terrorverharmlosenden, israelfeindlichen, antisemitischen und unverrückbaren Positionen zum Nahostkonflikt in die Schule kommen – als hätten sie sich über Nacht radikalisiert“, berichtet etwa Deborah Schnabel. Der TikTok-Report ihres Teams zeichnet ein düsteres Bild: Aus der unterhaltsamen App mit Tanzvideos ist teilweise eine Plattform der Propaganda geworden, die Extremisten gezielt nutzen, um mit kurzen Clips vor allem junge Menschen zu erreichen.

„Salafistische Prediger haben ihre Bühne gefunden“

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul fordert ein bundesweit einheitliches Vorgehen gegen Islamisten in sozialen Netzwerken deutschlandweit genauer unter die Lupe nehmen lassen. „Salafistische Prediger haben ihre Bühne gefunden: Auf TikTok beeinflussen sie täglich Kinder und Jugendliche mit ihren kruden Fantasien, die nicht zu unserer freien Demokratie passen“, so der CDU-Politiker in einem Interview. Für ihn ist klar, dass man endlich zielgerichtet gegen digitale Prediger vorgehen sollte. Einen entsprechenden Eintrag brachte Reul bereits bei der Innenministerkonferenz in Potsdam im Juni ein.

NRWs Innenminister Herbert Reul. Foto: IMAGO/teutopress

 

Vor allem junge Menschen zwischen 14 und 29 Jahren seien anfällig, sich durch TikTok und andere Plattformen wie Telegram und Co. manipulieren oder sogar radikalisieren zu lassen, so Expertinnen und Experten. Unbemerkt von Eltern und unbemerkt von Lehrkräften. Die Gefahr des von den Plattformen ausgehenden Antisemitismus, Islamismus und Rassismus werde zu wenig ernst genommen. Nicht nur von der Politik, auch von der Zivilgesellschaft, so Deborah Schnabel. Zwar sprach TikTok in der Vergangenheit Verwarnungen aus, löschte z.B. auch Hunderttausende Videos oder schränkte Reichweiten ein, aber die grundlegende Systematik bleibt bestehen. Schließlich verdienen Soziale Medien mit Reichweiten ihr Geld.

30 Prozent aller Challenges sind potenziell gefährlich

Nicht nur Gedankengut wird per Klick in die Köpfe verpflanzt. Auch lebensgefährlichen Handlungen finden ihren Ursprung immer häufiger im Netz, gern in Form einer Challenge: Chilli-Chips essen, bis die Tränen kommen und die Speiseröhre verätzt. Deo sprühen, bis die Haut verbrennt, Würgen, bis einem schwarz vor den Augen wird. Ein 15-Jähriger starb 2023, weil er sehr viel Deo eingeatmet hatte. Eine 13-Jähriger verlor im letzten Jahr ihr Leben, weil sie sich im Rahmen einer „Blackout“-Challenge stranguliert hatte. 30 Prozent der TikTok-Challenges etwa werden von Forscherinnen und Forschern der Ludwig-Maximilians-Universität München im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW als potenziell schädlich eingestuft, ein Prozent sogar als potenziell tödlich. TikTok-nutzende Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 16 Jahren stoßen laut der Studie regelmäßig auf Inhalte, die bei ihnen Unwohlsein hervorrufen. Eine Mehrheit gab an, „dass Videos bei ihnen Ekel erzeugten. Mehr als die Hälfte sprach von „Inhalten, in denen andere absichtlich verletzt wurden“. Knapp 40 Prozent begegnet extremistischer Propaganda.

Vor allem Schulen bekommen den Einfluss von TikTok zu spüren, Symbolfoto: Getty Images

 

„Bei Fällen, in denen es um Suizid oder Lebensgefahr geht, wird TikTok wirklich schnell aktiv“, bestätigt Nadine Eikenbusch von der Medienanstalt NRW gegenüber der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ). „Aber bei Challenges, die keine fatalen Konsequenzen haben, wird kaum reguliert. Es gibt weiterhin Dinge, die Angst machen, die die Entwicklung beeinträchtigen können. Auch solche, bei denen sich jemand verletzen kann. Da gibt es Nachholbedarf bei TikTok.“

Social Media verbieten? Eine Sackgasse!

Nachdem ich diese Zahlen gelesen und Schicksale vor Augen geführt hatte, war mein erster Impuls, sämtliche sozialen Medien von meinem Smartphone zu löschen. Und meinen Kindern nie wieder auch nur eine Minute surfen, wischen oder klicken zu lassen. Doch dieser Fehler wäre mindestens genauso groß wie der komplett freie (oft auf Unwissenheit fußende) Zugang zu sämtlichen Plattformen. Was verboten wird, lockt besonders. Das wissen auch wir, die noch keine echten Natives sind. „Auch früher ging es darum, Grenzen auszutesten und sich zu profilieren. Wahrscheinlich hat jeder schon mal eine Mutprobe mitgemacht – oder einen Kettenbrief versendet. Und nicht alles ist nur schlecht und nur schlimm“, bringt es Nadine Eikenbusch von der Medienanstalt NRW auf den Punkt. Besser ist es, von eigenen Erfahrungen zu berichten, Gefahren in diesem Kontext aufzuzeigen. „Gleichzeitig müssen Eltern und pädagogische Fachkräfte sich immer wieder bewusst machen, dass die Welt, in der ihre Kinder aufwachsen, heute auch digital ist. Es reicht nicht, nur zu wissen, wie das Kind nach dem Sportunterricht nach Hause kommt, sondern auch, mit wem es virtuell abhängt und was ihm dort begegnet“, so Dr. Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW.

Echtes Interesse an der Art und dem Umfang der Mediennutzung und das Bestärken der Kinder und Jugendlichen darin, Videos weiterswipen, wegklicken oder melden zu können, sind eine weitere Säule, um den vertrauensvollen Austausch zuhause oder in der Schule zu stärken. Für individuelle Beratung stehen die Expertinnen und Experten der Medienanstalt NRW zur Verfügung. Außerdem geht die Aufsicht der Medienanstalt NRW gegen potenziell rechtsverstoßende Inhalte auf TikTok medienrechtlich vor.

Und eines ist auch klar. Ein großer Teil der Inhalte dient jungen Menschen heute auch zur positiven Identitätsbildung. Sich austauschen mit denen, die genauso ticken. Wissen, dass man nicht allein ist. Und sich vernetzen. Auch für die gute Sache. So haben viele ehrenamtliche Organisationen Auftritte in den Sozialen Medien, auch bei TikTok, und finden auf diesem Weg neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Vor allem große Institutionen im Ruhrgebiet sind sehr aktiv in der digitalen Vernetzungsarbeit. Denn eines darf man nicht vergessen: Jugendliche sind Digital Natives, vielleicht auch manchmal Digital Addicts, aber zwei Drittel der jungen Menschen engagieren sich in NRW auch ehrenamtlich. Im echten Leben.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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