Es ist ruhig. Das Freiherr-vom-Stein-Gymnasium in Oberhausen hat den letzten Schülerinnen und Schüler in die Freiheit entlassen, die Sonne scheint, Vögel zwitschern. Die Allee an der Wilhelmstraße lädt dazu ein, etwas langsamer zu laufen, während die Lautstärke der Sterkrader Innenstadt hinter einem immer weniger wird. Vorbei führt der Bürgersteig an einem Gelände voller Bäume und Sträucher. Plötzlich: Ein Trampelpfad führt vom Bürgersteig in die Tiefe. Wer denkt, hier reiht sich ein vergessener Strauch an den anderen, täuscht sich. Nach einem kurzen Abstieg steht der Besucher vor einem schlichten hellen Holzzaun und einer kleinen Tür, daneben ein Keramikschild, bunt bemalt — die Adresse darauf: „Zum Paradies 1“.
Der Garten, der sich hinter der Holztür verbirgt, erstreckt sich auf ausladende 600 Quadratmeter, rechts steht eine riesige Eiche, an der eine Schaukel hängt. Links steht die quietschgelbe Laube, daneben Beete und ein kleiner Teich mit Kois. Ein kleines Wunderland, mitten in der Stadt. Die kleine Überdachung der Laube spendet Schatten für die zusammengewürfelten Möbel, inklusive Couch, einem Plastiktisch und etlichen Erinnerungsstücken, geschmückt mit teils selbstgebastelter Deko. Wer ein Faible für diese Art Charme hat, fühlt sich direkt wohl und heimelig.
Auf der Couch Platz genommen, kommt der Besitzer des Gartens direkt mit einer Tasse Kamillentee um die Ecke, prüft, ob die Decke auf der man sitzt, nicht verrutscht ist und fitscht ein Blatt vom Tisch, damit auch alles ordentlich ist. Karl-Heinz Hartmann, genannt Kalle, kennt diesen, seinen Garten wie die berühmte eigene Westentasche, wirft prüfend einen Blick ins Beet. Alles in Ordnung? „Das Beet muss immer ordentlich sein, für meine Frau“, schmunzelt der 66-Jährige, bevor er sich auf einen der weißen Korbstühle setzt und in das bunte Sitzpolster lehnt.
Kalles kleines Reich im Grabeland
Kalle verbringt hier seit vielen vielen Jahren bevorzugt seine Freizeit. Sein kleines Reich im Grabeland – unzählige Lebensstunden stecken in Bäumen, Beeten und seinem Teich, hunderte Erinnerungen mit seinen Eltern, seiner Frau, seinen Kindern und seinen Freunden gehören genauso zu seinem Garten wie Gras und Grün.
Geboren ist Kalle in Oberhausen-Osterfeld. Gelebt hat der gelernte Konditor neben dem Stadtteil Biefang auch ein Jahr auf Sylt und 1978 sogar eine Weile auf einem Schiff der Marine. „Ich habe damals wundervolle Orte gesehen, von Kanada bis zur Karibik. Ich hätte mir vorstellen können, mich dort niederzulassen.“ Doch Heimat, „Heimat ist für mich hier.“
Denn Heimat ist für den 66-Jährigen nicht rein geografisch. „Ich bin ehrlich: Wenn ich meine Frau nicht kennengelernt hätte, würde ich vielleicht woanders leben. Aber auch Familie ist für mich Heimat.“ Er arbeitete nur kurze Zeit in dem erwählten Beruf, wechselte danach zu den Starkstrom-Anlagen in Oberhausen, heute SPIE, und kletterte die Hochspannungsmasten von Dortmund bis Meerbusch für 20 Jahre hoch und runter. Danach wechselte er in die Baumpflege – und verliebte sich noch mehr in die Natur. „Ich habe mich aber schon immer für die Natur und die Tierwelt interessiert. Einmal stand ich oben am Strommast und habe gesehen, wie sich eine Krähe verletzt hat. Danach habe ich sie mit nach Hause genommen und versucht, gesund zu pflegen.“
Die Baumpflege führte ihn in die Welt von Natur und Insekten, er lernte lateinische Begriffe für Pflanzen und kümmert sich liebevoll um alles, was wächst und gedeiht. Auch Kalle hat seinen Garten im vom Abriss bedrohten Grabeland in Oberhausen.
Öffentliche Diskussion über die Zukunft des Grabelandes
Seit Bekanntwerden der Pläne der MAN GHH Immobilien GmbH, das Grabeland zu erschließen und darauf Häuser zu errichten, setzt er sich ebenfalls in der Bürgerinitiative „Grüne Lunge 3.1“ für den Erhalt der Fläche und das Überleben der Natur ein. Er kennt das Gelände und die Gärten schon sein halbes Leben. In den 1980ern übernahmen seine Eltern den Garten von einem Bekannten, Kalle erbte danach. Vier Kinder und weitere vier Enkelkinder genießen den Garten ebenfalls. „Auf der Schaukel haben meine Kinder schon geschaukelt, jetzt ist sie der Anlaufpunkt für meine Enkel. Ich habe sehr viele wertvolle Erinnerungen an diesen Garten. Unter der Eiche haben schon meine Kinder in Pampers gelegen und die Blätter beobachtet.“
Auch der Rest der Familie ist ein Stück im Garten aufgewachsen. „Als mein Sohn volljährig wurde, war der Grill hier drei Tage lang an“, erinnert er sich zurück an viele ausgelassene Feiern. Liebevoll hat er die jetzige Hütte vor vielen Jahren in Bottrop bei einem anderen Kleingärtner abgebaut und in mehreren behutsamen Fahrten nach Sterkrade chauffiert, hier wieder mühsam aufgebaut und in gelb gestrichen. „Wie es sich für einen Dortmund-Fan gehört“, schmunzelt der 66-Jährige. Was diesem, seinem Garten aber blühen könnte, lässt das Lächeln in Sekunden verschwinden.
Bereits 2021 hatte sich die öffentliche Diskussion über die Zukunft des Grabelandes zugespitzt. Nachdem die WAZ nicht nur die Position der Kleingärtner, sondern auch die des MAN-Geschäftsführers Rüdiger Stolz dargestellt hatte, meldeten sich parallel die zu Wort, für die die Gärten weichen sollen: Potenzielle Hauskäuferinnen und -käufer, darunter auch junge Familien, die sich bereits seit vielen Jahren auf verzweifelter Haussuche in Oberhausen und Umgebung befinden – und ihr eigenes Fleckchen Heimat hoffnungsvoll auf dem Gelände des Grabelands vermuten. Im Gespräch mit der Presse stellten sie die Romantisierung der Fläche offen in Frage, bezeichneten das Gelände als „Schandfleck, keine grüne Idylle“ und beschwerten sich über den Zustand der Gehwege und Gärten.
Geldstrafe für den Kleingärtner
Als Reaktion auf diese Kritik mobilisierte die Bürgerinitiative daraufhin einige der Kleingärtner. Auf eigene Kosten bauten rund 25 Kleingartenbesitzer Bänke und Tische, schnitten Hecken zurück, pflanzten Sträucher und Blumen und stellten Infotafeln zu den auf der Fläche lebenden Tieren auf. Die Reaktion der MAN GHH Immobilien GmbH: Sie reichten Klage gegen Kalle ein, den sie als Initiator dieser Aktion ausmachten. Ein Schock für die Bürgerinitiative. „Das war eine harte Zeit damals“, sagt der 66-Jährige auch heute noch.
Nach mehreren Gerichtsterminen stand die Geldstrafe von 500 Euro fest – die Linke Oberhausen übernahm diese Kosten schlussendlich für den Kleingärtner. „Ich würde viel dafür tun, dass diese Fläche erhalten bleibt“, sagt Kalle trotz dieser Geschichte. „Ich bin nicht egoistisch, es geht mir und uns allen nicht nur um den eigenen Garten. Wir haben eine Verantwortung für die nächste Generation. Wie sollen wir unseren Enkeln erklären, dass noch eine Fläche asphaltiert worden ist?“
Argumente für den Erhalt gebe es viele; unter anderem, dass Oberhausen nach München die am stärksten asphaltierte Stadt in Deutschland sei, Sterkrade dazu einer der wärmsten Stadtteile in Oberhausen. Das Grabeland mit seiner diversen Natur sei eine dringend benötigte Frischluftschneise – Argumente, die damals wie heute auch von Nabu, BUND und den Grünen in Oberhausen unterstützt werden.
Ebenfalls im Spätfrühling 2021 wurde allen Pächtern gekündigt, eigentlich hätten sie ihre Parzellen bis Ende Oktober desselben Jahres räumen müssen. Aber der Eigentümer lenkte kurz vor Ablauf der Frist ein. Obwohl die Kündigungen bestehen, werden die rund 50 Kleingärtner seit anderthalb Jahren geduldet – so lange, bis das weitere Vorgehen mit der Fläche geklärt ist.
Seitdem ist es ruhiger geworden. Doch die Bürgerinitiative „Grüne Lunge 3.1“ holt nun, zwei Jahre später, wieder tief Luft. Denn: Der Kampf ist noch nicht beendet.
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