Ein Glas Rotwein, ein knisterndes Kaminfeuer, klassische Musik: Wie viele Menschen das wohl als die ideale Atmosphäre beschreiben, in der sie wirklich tiefgründige Gespräche führen und/oder ihrem Gegenüber näherkommen? Doch perfekt kann jeder, unperfekt ist etwas Besonderes. Für mich sind die besten Begegnungen mit Abgasen, Stop-and-Go und Verspätungen verbunden. Dem, was andere, die Außenstehenden und vielleicht auch Unwissenden, Verkehrschaos oder Planungskatastrophe nennen, wenn sie die Infrastruktur des Ruhrgebiets bewerten.

Klar, einige Fakten sprechen gegen uns. Die Metropolregion ist eine der großen Stau-Hochburgen, viele Mobilitäts-Großprojekte entpuppen sich als Groschengrab. Aber wenn einer mental so ausgestattet ist, um damit umzugehen, dann der Ruhri. Verkehrschaos ist Teil unserer DNA. Unser Temperament passt perfekt zu dieser Achterbahn der Gefühle, die ein „Die Haltestelle XY entfällt heute außerplanmäßig“ oder ein „Die Autobahnausfahrt XY wurde gesperrt“ auslösen. Ein Hamburger (und das darf ich sagen, weil es mich dorthin ins Exil schon verschlagen hat) würde eine Dauerschleife solcher Widrigkeiten mit seiner höflich-distanzierten Art gar nicht überleben! Und würde das Chaos schon gar nicht als perfektes, emotional aufgeladenes, aber am Ende Verbindung stiftendes Gesprächsthema schätzen. Wenn ich zum Beispiel früher jedes Wochenende aus meiner Studienstadt Bochum nach Hause fuhr, war die erste Frage bei Ankunft: Und, wie biste durchgekommen? Dann wurde eine Stunde lang über die verschiedensten Baustellen und Rote-Ampel-Phasen diskutiert. Schnell ging es dann über zu der „Tatsache“, dass die Bahn auch keine Alternative sei, weil am Bahnhof schon seit Monaten renoviert würde. Und überhaupt: Der Ticket-Automat sei da ja sowieso kaputt. War dieser eigentlich je funktionstüchtig?

In Nullkommanichts fühlte ich mich angekommen und angenommen und dachte zurück, an die beinahe magischen Momente, die nichts mit knisterndem Feuer zu tun haben und trotzdem diesem in seiner Kraft in nichts nachstehen. In der Fahrschule etwa habe ich meine heute immer noch beste Freundin kennengelernt. Wenn wir dank der uns damals noch unbekannten Servolenkung das Lenkrad zu stark herumrissen und das Auto in den Grünstreifen lenkten, der Fahrlehrer panisch eingriff, dann fühlten wir uns verbunden. Und eine Geschichte war geboren, mit denen wir unsere Ehemänner noch zum Lachen bringen. Genauso fühle ich mich fast allen Menschen auch jetzt noch tief verbunden, mit denen ich durch Baustellen auf der A2 kroch oder dem absoluten Stillstand auf der A40 frönte. Wir drehten die Musik laut und sangen noch lauter zu unseren Lieblingsliedern. Wir sprachen über unsere Träume, über Politik, sogar über den Tod. Im Stau habe ich mich auch schon getrennt, neu verliebt, und bis ins kleinste Detail meine berufliche Zukunft geplant. Und was soll ich sagen, es war immer genau der richtige Zeitpunkt, inmitten dieses vermeintlichen Chaos‘ die wichtigen Dinge zu klären.

Genauso werde ich nie das Gefühl von Freiheit vergessen, das inmitten dieses Chaos geboren wurde, etwa als ich zum ersten Mal wirklich mit Führerschein in der Tasche ein Auto steuerte. Für mein gesamtes Umfeld gehörte der Führerschein zum Leben wie die Luft zum Atmen. Umweltverschmutzung? Niemand machte sich darüber Gedanken! Zu wenig Parkplätze in der Gladbecker Innenstadt? Kein (Stadtplanungs-)Problem, sondern ein „So isses eben bei uns“. Irgendjemand kannte immer irgendwen, der einen Geheimtipp hatte, um irgendwo Parkschein oder Strafmandat zu umgehen. Manchmal lief ich dafür vom Auto zu den Geschäften zehn Minuten. Egal, Hauptsache man ist flexibel, hieß es. Absurd, ja. Liebenswert, auch. Für mich jedenfalls. Raus aus Gladbeck, rein ins Oberhausener, Bochumer, Gelsenkirchener oder Dortmunder Getümmel. Wann immer man will! So was gibt’s nur hier, denken wir Ruhris bis heute stolz und mit mitleidigem Blick auf Metropolen wie Berlin. Wo man nur diese eine Stadt hat und kein dichtes Netzwerk an gleichwertig ausgestatteten Nachbarstädten. Wo viele nicht einparken können, weil sie nie versucht haben, sich in kleinste Lücken zu zwängen, weil sie ja, oh Gott, mit dem Rad gekommen sind. Freiheit hatte für mich bis zum Studium nicht zwei, sondern immer vier Räder. Ihr Maximum erreichte sie für mich in Form von Urlaubsfahrten: Vom Ruhrgebiet aus ging es nach Italien oder Österreich. Manchmal tagelang. Und immer, wenn man zurückfuhr, wich das Fernweh dem puren Heimatgefühl, wenn die Stauschau kilometerlangen Stillstand rund um die neuralgischen Kreuze im Pott meldete. Und wir vorher noch schnell bei einer der Tankstellen Sandwiches besorgten, um die letzten 30 Kilometer á zwei Stunden kulinarisch zu genießen.

Zur Uni dann versuchte ich mich erstmal bis zu einem Umzug als Pendler im Zug. Und knüpfte wieder ständig neue Bekanntschaften. Wenn ich am Bahnhof wartete, weil die Regionalbahn zu spät kam. Oder mich an einer Leidensgenossin festhielt, wenn der Zug über die Gleise ruckelte und hoffnungslos überfüllt war. Ich hatte keine negativen Gefühle, weil ich es nicht anders kannte. Und es gab ja immer was zu quatschen. Nirgendwo sonst, das behaupte ich jetzt einmal stolz, kommt man so schnell ins Gespräch wie im Pott. Neulich schrieb mich jemand über das Jobportal LinkedIn an: Bist du die Anna aus dem RE1? Klar, dass diesem netten Gesprächsöffner lange und lustige Zeilen am Computer folgten… Und was soll ich sagen: Auch meine große Liebe habe ich beim Pendeln, später im Job, auf jeder ewig chaotischen Fahrt immer besser kennengelernt.

Meine Kinder wachsen heute nicht in diesem Chaos auf. Sie fahren mit dem Rad zur Schule auf einem perfekten Radweg. Und mit einer alle 10 Minuten einfahrenden S-Bahn in die Innenstadt. Die Vorstellung, einen Führerschein zu machen, beschert ihnen eher Alpträume als Glücksgefühle, haben sie doch ihren ökologischen Fußabdruck im Blick. Wenn wir aus über zehn Unternehmen in Hamburg ein Taxi zum Flughafen bestellen, sind sie gewohnt, dass dies auch kommt. Und sie müssen nicht, wie ich, eine Freundschaft überstrapazieren, weil das einzige Taxiunternehmen die Fahrt vergessen hat und ich um 5 Uhr morgens noch schnell zum Flughafen muss. Und doch: Wenn es heißt, dass wir zu Oma und Opa ins Ruhrgebiet fahren, dann leuchten die Augen meiner Kinder. Denn es ist klar: Wir werden statt der stets von Google Maps optimistisch eingeschätzten 3,5 Stunden mindestens 5 brauchen. Wir werden unendlich viel reden, über die Schule, Freunde, die Familie, und Fragen des Lebens. Wir werden singen zur Musik und uns nah sein. Und wenn wir ankommen, wird ganz sicher die Frage gestellt: Und, wie seid ihr durchgekommen?

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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