Taylor Swift spielt gleich dreimal im Juli in Gelsenkirchen. Foto: picture alliance / empics

Wie die einstige „Stadt der tausend Feuer“ einen neuen Funken sucht: Kohle mit Kultur - geht dieser Plan auf? Wir begaben uns auf Spurensuche in einer Region, die eigentlich viel zu oft von Negativ-Rekorden gebeutelt ist

Wo zur Hölle liegt Gelsenkirchen? Da, wo die Stars auftreten, ohne dass von der Stadt selbst auch nur ein Funken Star-Appeal auszugehen scheint. Rolling Stones, Lionel Richie, AC/DC, Metallica, Pink, Bruce Springsteen: Die Liste der Superlative ist endlos. Und Musikfans weltweit können es jedes Mal kaum fassen, dass ausgerechnet dieses graue Fleckchen Erde alles kriegt, was Rang und Namen hat. Als bekannt wurde, dass Taylor Swift, DIE Taylor Swift, im Juli gleich drei Konzerte in the Middle of Nowhere spielen würde, rissen zornige Social Media Beiträge tagelang nicht ab. Nur kein Neid, möchte ich, die in der Nachbarstadt aufwuchs, am liebsten unter jede virale Empörung posten. Denn wenn eine Stadt jedes Milligramm Glitzer gebrauchen kann, dann ist das Gelsenkirchen.

Viele Hoffnungen ruhen auf der Alianz-Arena. Foto: uslatar - stock.adobe.com

 

Arbeitslosigkeit, Grundsicherung: Gelsenkirchen gilt als „ärmste Stadt Deutschlands“

Kaum ein Ort hat in den letzten Jahren im Ruhrgebiet wohl derart sein Fett wegbekommen. Allein die „Drecksloch“-Debatte, die englische Fans im Rahmen der aktuellen Fußball-EM auslösten, dürfte der Stadt noch lange nachhängen. Negativ-Rekorde aufstellen, das ist man hier gewohnt. Gelsenkirchen gilt als „ärmste Stadt Deutschlands“. Die Arbeitslosenquote liegt stabil und hoch bei um die 15 Prozent. 80 Prozent davon sind Langzeitarbeitslose. Mehr als 25 Prozent der erwerbsfähigen Personen bekommen hier Grundsicherung, fast jedes zweite Kind lebt in Armut. Und nicht einmal mehr im Fußball spielt man annähernd oben mit: Schalke 04 ist zur Fahrstuhl-Mannschaft geworden, die in der zweiten Liga zuletzt haarscharf ihr Überleben sicherte und von Schulden erdrückt wird. Genau in dieser Kulisse der Veltins-Arena aber, wo auf dem Rasen der Geruch der ewigen Niederlage tief in den Trikots steckt, singen die Großen und alle singen mit. Und kurz, ganz kurz, spürt man dann ein wenig das alte Feuer.

Einst ein Pionier mit der umsatzstärksten Einkaufsstraße

„Stadt der tausend Feuer“: Diesem Spitznamen wird man sonst schon verdammt lange nicht mehr gerecht. Wie auch, wenn das, was die Region auszeichnete, weggebrochen ist und nie durch vergleichbar starke Branchen ersetzt werden konnte. Mitte der 1920-Jahre war Gelsenkirchen eines der größten Bergbauzentren Europas. Die Arbeiter strömten nur so in diese Erfolgsmetropole. Höher, weiter, schneller: Das Wirtschaftswunder tat nach dem Krieg sein Übriges, stärkte das Rückgrat der Industrie nur umso mehr. Rund 6000 Menschen waren allein bei der Großzeche Graf Bismarck, die damals in Sachen Produktivität und Modernität ihresgleichen suchte, beschäftigt. Auch die Eisen- und Stahlwerke ließen die Kasse klingen, ebenso die Textilindustrie. Geht man heute durch die Innenstadt, kann man es auch als wohlwollender Ruhri kaum noch glauben, dass hier einmal eine der umsatzstärksten Einkaufsstraßen Deutschlands gewesen sein soll. Überhaupt hatte Gelsenkirchen, damals ganz Pionier, Ende der 50-Jahre eine der ersten Fußgängerzonen im Revier.

 

Die Schattenseiten der Stadt. Foto: IMAGO/Funke Foto Services

 

Der Niedergang kam schleichend und wie in vielen Ruhrgebietsstädten in Wellen daher: Kohlekrise der 60er-Jahre, Stahlkrise der 80er-Jahre. Wenn die Hochöfen den Nachthimmel nicht mehr erleuchten, das zeigt der Strukturwandel vor allem in Gelsenkirchen, dann verlieren auch viele der Bewohnerinnen und Bewohner ihr Leuchten. Ein „Drecksloch“ ist solch eine krisengebeutelte Stadt aber noch lange nicht. Auch hier sind neue Technologiewirtschaftsparks und Bildungszentren auf den Brachen der alten Zechen entstanden. Dienstleistungen, Gesundheitswirtschaft und Logistik sind Branchen, die nun versuchen, in die großen Fußstapfen der einstigen Stahlgiganten zu treten. Und, was Außenstehende nur beim zweiten Blick erkennen: Vor allem der kulturelle Sektor spielt eine wachsende Rolle.

Yves Klein und das Gelsenkirchener Blau als Vorboten eines Swift-Boosters?

Hinter der 4500 Quadratmeter großen, funkelnden Glasfassade des Musiktheaters im Revier (MiR) etwa sorgen Opern, Musicals oder Ballettaufführungen für Furore. Yves Klein Schuf für den MiR-Neubau überdimensionale Schwammreliefs in Blau – inzwischen ist die Farbe des Musiktheaters als „Gelsenkirchener Blau” in die Kunstgeschichte eingegangen. Royal wird es nicht nur in Sachen Farben. Schloss Berge, das ehemalige Wasserschloss, sowie Schloss Horst, eines der bedeutendsten Renaissanceschlösser Westfalens mit Erlebnismuseum, verleihen Gelsenkirchen ein wenig Glanz und Gloria. Und wer in der Revierstadt doch mal ganz oben sein will, hat mit der „Himmelstreppe“ die beste Möglichkeit. Auf dem ehemaligen Gelände der Zeche Rheinelbe prangt ein Plateau mit diesem selbstbewussten Namen als Monument aus Betonresten einer Dortmunder Zeche. Dank satter Wälder drumherum lockt das Naherholungsgebiet viele Besucherinnen und Besucher an.

Klar, Hollywood Hills sind das nicht. Und was am Ende zählt, ist das, was sich im Portemonnaie abspielt. Denn Gelsenkirchen braucht Geld. Und da ist dieser Rekordsommer, den die Stadt aktuell durchläuft, ein Anfang. Vier EM-Spiele und viele Konzerte. Vor allem eben Taylor Swift. Irgendwie bezeichnend, dass ihr Nachname auf Deutsch so viel bedeutet wie schnell, rasch, prompt. Prompt werden die Millionen aber wohl nicht in die Kassen gespült.  

Ein virtueller Wert von 12 Millionen Euro

In Sachen Fußball gibt es dennoch Zahlen, die Mut machen. „Die Uefa hat den Werbewert eines EM-Spieltages für die jeweilige Stadt mit bis zu drei Millionen Euro angesetzt“, so Dr. Jochen Grütters, Leiter des Standorts Emscher-Lippe der IHK Nord Westfalen. Das sei ein virtueller Wert, heißt aber übersetzt: Ohne die vier EM-Spieltage müsste die Stadt theoretisch zwölf Millionen Euro in die Hand nehmen, um ihren Namen auf ähnliche Weise weltweit bekannt zu machen.

Taylor-Swift-Fans und ihre typischen Armbänder. Bald wird das Revier voll von ihnen sein. Foto:picture alliance / Hans Lucas

Klar ist auch: Hotel- und Gaststättengewerbe profitieren enorm. Die Preise rund ums Taylor Swift Konzert haben sich verdreifacht, teils vervierfacht. Und auch andere Unternehmen erfahren einen Booster dank all der Veranstaltungen 2024. Der Sicherheits- und Reinigungssektor etwa. Aber auch Bus- und Taxiunternehmen. Techniker. Caterer.

Amerikanische Verhältnisse werden es wohl nicht. So wird die Wirtschaftsleistung von Taylor Swift für die USA aktuell auf mindestens 4,6 Milliarden US-Dollar geschätzt. Im Schnitt gab allein bei Konzertbesuchen jeder „Swiftie“ 1300 US-Dollar aus. Nicht nur der amerikanische Super-Star wird geliebt, auch sie dürfte jede Mega-City lieben, in der sie auftritt. Denn angeblich nimmt Swift bei ihrer aktuellen Eras-Tour pro Konzertabend 13 Millionen ein. Angesichts dessen, dass Gelsenkirchen 70.000 Fans fasst, wenn weltberühmte Musiker auf der Bühne stehen, dürfte auch die Sängerin mit der Revier-Metropole äußerst zufrieden sein. Und hoffentlich ein wenig von den positiven Schwingungen in die Welt tragen. Damit überall klar ist: Diese Stadt ist kein Drecksloch. Hier wird gekämpft für eine Zukunft. Und hier leben ganz viele Menschen mit dem Herz am rechten Fleck.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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