Christoph Biermann wuchs mit seinen drei Brüdern in Herne auf. Er studierte an der Ruhr-Universität Bochum Germanistik und Geschichte und besuchte 15 Jahre lang, bis zu seinem Umzug, jedes Heimspiel des VFL Bochum. Mittlerweile lebt er schon lange nicht mehr im Ruhrgebiet. Trotzdem ist für ihn jeder Besuch im Revier, als würde er nach Hause kommen. Dabei, sagt er, sei das Ruhrgebiet heute gar nicht mehr mit dem aus seiner Kindheit zu vergleichen. Der Pott habe eine wahnsinnige Veränderung durchgemacht.

„Es zwar viele dynamische Menschen im heutigen Ruhrgebiet, aber nicht so etwas wie eine gemeinsame Dynamik.“

Christoph Biermann, Sportjournalist

Was fasziniert Sie persönlich besonders am Ruhrgebiet?

Es geht eher um Vertrautheit als um Faszination, um eine Welt, die man kennt und versteht. Ich habe auch heute noch das Gefühl, nach Hause zu kommen, wenn ich das Ruhrgebiet besuche, dabei lebe ich schon viele Jahre nicht mehr dort. Sicher ist es nicht die Region Deutschlands, die besonders durch landschaftliche oder architektonische Schönheit besticht. Aber die Frage nach der Schönheit stellt sich für mich auch nicht. Man lebt schließlich nicht in einer Kulisse, sondern taucht ins echte Leben ein.

Wie unterscheidet sich das Ruhrgebiet Ihrer Kindheit von dem Ruhrgebiet, das Sie heute bei Ihren Besuchen erleben?

Das ist kaum mehr zu vergleichen, denn die Region hat eine unglaubliche Veränderung durchgemacht. Das Ruhrgebiet, in dem ich in den 1960er und 1970er Jahren aufgewachsen bin, war noch weitgehend von Kohle und Stahl geprägt. Das war übrigens nicht idyllisch, wenn ich an meine Kindheit in Herne zurückdenke. Ein Detail etwa ist mir dazu im Gedächtnis geblieben: Morgens wischte meine Mutter die Fensterbänke sauber, am Nachmittag waren sie bereits wieder mit einer feinen Schicht aus Kohlenstaub bedeckt. Später habe ich dann miterlebt, wie das Zeitalter von Kohle und Stahl zu Ende ging. So schmerzhaft er teilweise war, hat der sogenannte Strukturwandel viele Verbesserungen mit sich gebracht. Es war damals nämlich nicht so toll, wie das in einer heute manchmal etwas verklärten Rückschau rüberkommt. Das Ruhrgebiet war geprägt von starker Umweltverschmutzung, von harter Arbeit unter teils schlimmsten Bedingungen und einer kaum zu leugnenden Tristesse.

Und wie sieht es mit der Mentalität aus? Hat diese den Strukturwandel auch gemeistert bzw. überlebt?

Die gefährliche und anstrengende Arbeit hat die Menschen damals zusammengeschweißt und geprägt. Ohne den Zusammenhalt hätten sie nicht überlebt. Die Notwendigkeit dazu besteht in dieser existenziellen Form heute nicht mehr, aber teilweise ist diese Zusammenhalts-Mentalität von einer Generation an die nächste weitergegeben worden.

Was macht „unsere“ Mentalität denn aus? Oder ist sie heute nicht eher ein Klischee ohne jede Grundlage?

Die viel gerühmte Direktheit etwa erlebe ich auch in Berlin. Aus meiner Sicht und meinen Erlebnissen heraus würde ich Verlässlichkeit als besonders gute Zutat der Ruhrgebiets-Mentalität nennen. Im Prinzip prima ist auch die gering ausgeprägte Selbstverliebtheit, also das Nicht-dicke-tun oder Aufplustern. Doch dieses Tiefstapeln führt mitunter auch dazu, dass man den Wert von Dingen nicht erkennt oder unterschätzt. Dazu passt eine weitverbreitete „Das wird doch sowieso nichts“-Haltung, ein mitunter lähmender Grund-Pessimismus. Dass dann die Begeisterung für Neues fehlt, ist kein Wunder. So gibt es zwar viele dynamische Menschen im heutigen Ruhrgebiet, aber nicht so etwas wie eine gemeinsame Dynamik.

Würde die Dynamik verstärkt, wenn das Ruhrgebiet sich mehr als starke Region verstehen würde?

Ich bin 1960 geboren und gehöre damit der ersten Generation an, die das Ruhrgebiet als große Stadt begriffen und die einzelnen Städte als Stadtteile wahrgenommen hat. Das sehe ich noch immer so. Ich denke, dass es vielen so geht, sich diese Sichtweise aber immer noch nicht komplett durchsetzen konnte. Das ist auch historisch bedingt. Das Ruhrgebiet sollte einst nicht zu stark werden, denn dann hätte es NRW dominiert und auch in ganz Deutschland eine zu starke Rolle gespielt. Dieses Kleinhalten hängt der Region noch nach.

Wie bewerten Sie, als bekannter Fußball-Experte, die Wichtigkeit des Fußballs für die Ruhrgebiets-Identität?

Es gibt fünf Vereine, die in den ersten drei Ligen spielen, und das ist eine bemerkenswerte Leistung. Auch emotional ist Fußball die große, verbindende Klammer geblieben. Wenn Leute, auch Außenstehende, heute ans Ruhrgebiet denken, denken sie an die industrielle Vergangenheit (oft im Unwissen, dass es nicht mehr Gegenwart ist) und an Fußball. Letzterer sollte nicht kleingeredet oder leicht genervt bewertet werden. Man kann doch stolz darauf sein, ein solches Aushängeschild zu haben, statt es als Mangel zu empfinden, „nur“ auf Fußball reduziert zu werden. Mir stellt sich eher die Frage: Warum schafft man es nicht, die Erfolge jenseits von Fußball mehr ins Bewusstsein zu rücken? Etwa die Tatsache, dass das Ruhrgebiet Nr. 1 in Sachen Healthcare ist oder eine einzigartige Universitätslandschaft hat. Oder wie spektakulär manche Strukturwandel-Projekte waren, etwa die Renaturierung der Emscher.

„Kohle und Stahl sind weitgehend Geschichte – klar: eine sehr wichtige Geschichte –, aber mir wird zu viel über das Gestern kommuniziert.“

Christoph Biermann, Sportjournalist

Hat der Fußball sein Potential in Sachen Integrations- und Identitätskraft im Ruhrgebiet schon vollends entfaltet? Oder „geht da noch mehr“?

Da geht noch deutlich mehr. In Europa gibt es einige sehr moderne Vereine, die extrem smart arbeiten, von den Ruhrgebiets-Klubs gehört leider keiner dazu. Ich habe manchmal den Eindruck, als wolle man das Publikum nicht durch zu viel Innovation verunsichern. Andererseits würde ich es gut finden, wenn die Vereine ihre Strahlkraft als Werbeträger mehr dazu nutzen würden, um auf das dynamische Ruhrgebiet hinzuweisen. Es passieren im Ruhrgebiet viele tolle Sachen, der Fußball könnte darauf hinweisen – und idealerweise selbst für das moderne Ruhrgebiet stehen. Zur Integration würde ich sagen, dass sie im Fußball recht gut funktioniert. Das ist kein Idyll, hilft aber sehr.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Ruhrgebiets?

Eine zupackendere, dynamischere, optimistischere Haltung. Was Frank Goosen mit dem Spruch „Woanders ist auch scheiße“ prägte, sollte nicht in eine defensive, stagnierende Ecke führen. Die Selbstironie und das sympathisch Rotzige, das darin steckt, sollte man noch mehr in positive Energie verwandeln. Dabei würde es dem Ruhrgebiet helfen, sich stärker von der eigenen Historie zu emanzipieren. Kohle und Stahl sind weitgehend Geschichte – klar: eine sehr wichtige Geschichte –, aber mir wird zu viel über das Gestern kommuniziert. Außerdem wird ein Kult um eine harte, körperliche Arbeit zelebriert, obwohl die Mehrheit der Ruhrgebietsbewohner gar nicht mehr in diesem Sektor arbeitet. Es gibt auch andere Formen von Arbeit und von Zukunft, die eher gefeiert werden sollten.

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Das ist Christoph Biermann

Der bekannte Journalist wurde 1960 in Krefeld geboren und wuchs mit seinen drei Brüdern in Herne auf. Er studierte an der Ruhr-Universität Bochum Germanistik und Geschichte und besuchte 15 Jahre lang, bis zu seinem Umzug, jedes Heimspiel des VFL Bochum. Biermann arbeitete u.a. für die taz, den Stern und Die Zeit, er war Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und beim SPIEGEL. Aktuell ist er Chefreporter beim Fußballmagazin 11 Freunde. Biermann ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur und Autor zahlreicher Bücher, wie „Die Fußball-Matrix“ oder „Wir werden ewig leben“. 2009 und 2011 wurde er zum Sport-Journalisten des Jahres gewählt, schon dreimal gewann er den Preis für das Fußballbuch des Jahres, zuletzt 2023. Biermann lebt heute in Berlin, besucht seine Ruhrgebietsheimat aber regelmäßig.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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