„Rosi, wo bleibste denn?! Wir müssen los“! Jahrelang ging das morgens bei uns so. Peter Erkes, mein Großvater, fuhr jeden Morgen seine Frau Rosemarie, meine Großmutter, mit dem Auto nach Duisburg, wo sie bei Thyssen am Empfang arbeitete. Da er stets früher fertig war, wartete er draußen im Wagen, einem Opel Kadett D, Dreitürer in olivgrün, Schrägheckmodell mit fester Hutablage. Die große Heckklappe hätte einen Aufpreis gekostet und für Peter Erkes war schon dieses Fahrzeug Wunder genug. Es ist nicht so, dass meine Großmutter kein Auto fahren konnte. Mein Großvater sah nur schlicht nicht ein, wieso eine solche „Maschine“ den ganzen Tag auf dem Parkplatz irgendeines Firmengeländes stehen sollte. Dass er selbst danach auch zur Arbeit musste und diese „Maschine“ entsprechend stundenlang am Straßenrand irgendeiner Baustelle stehen würde, war da nicht ganz so interessant.

Peter Erkes war Straßenbauer und verbrachte jede freie Minute in dem Opel und rauchte. Selbst zum Einkaufen fuhr er Rosi, nur um dann selbst im Wagen zu warten und sich die nächste Kippe anzuzünden. Im Ruhrgebiet haben Raucher und Autofahrer eines gemeinsam: Man kann ihnen trauen. Mehr jedenfalls als denen, die kein Auto fahren und nicht rauchen. Mein Onkel Sascha war so einer, der nicht rauchte und kein Auto fuhr. Er hatte auch keinen Führerschein, das spielte damals aber nur eine nebensächliche Rolle. Und er litt darunter sehr. Denn wir misstrauten ihm. Darin waren wir uns alle einig. Auch wir Kinder, die selbst ja noch kein Auto fuhren. Uns war aber klar, dass wir hinter einem Steuer sitzen werden, sobald die Füße bis zum Gaspedal reichen.

Eines Tages bzw. eines Nachts wollte er sich für die vielen kleinen Gemeinheiten und das allgemeine Misstrauen rächen. Die Nähe meines Großvaters zum Opel Kadett ging so weit, dass er nachts, wenn er mal wieder nicht schlafen konnte, sich ins Auto schlich, um dort ein kleines Nickerchen zu machen. Als mein Onkel Sascha das eines Nachts mitbekam, lief er zum nächsten Münztelefon und rief die Polizei, er meldete einen „Dieb in weißem Feinripp, der sich an dem Wagen zu schaffen“ machte. Wieso auch eine Hose anziehen, wenn man doch in Ruhe schlafen möchte. Peter nahm ihm diese Sache sehr übel. Meine Großmutter hingegen konnte ihren Anekdoten-Fundus auffüllen.

Der Ruhri und das Auto – das ist eine Liebesgeschichte

Sichtlich unangenehm für alle Beteiligten, konnte es Rosi nämlich jahrelang doch nicht lassen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit diese Geschichte zum Besten zu geben, um dann selbst lauthals noch einmal drüber zu lachen, als wäre es erst letzte Nacht passiert. Und meine Großmutter lachte so wie ein Vulkan Lava spuckt – direkt hinaus und alles überziehend mit einer Schicht aus guter Laune, die ganz tief dröhnend direkt in den Schädel hämmerte, laut und schlicht nicht zu ignorieren. Peter schloss dann immer die Augen, krümmte die Augenbrauen und sagte mit einem leicht resignierenden Ton „Rosiii!“ Das lang gezogene „i“ untermauerte sein Missfallen. Mehr wollte er dazu aber auch nicht sagen.

Der Ruhri und das Auto – das ist eine Liebesgeschichte, die schwerer wiegt als die Romanze zwischen Rose und Jack auf der sinkenden Titanic. Céline Dions „My Heart Will Go On“ wird im Revier häufiger bei Autoverschrottungen gespielt als auf Hochzeiten. Dabei ist Autofahren im Ruhrgebiet keineswegs ein Vergnügen. Nirgendwo gibt es mehr Staus, mehr Stress und mehr Autos auf den Straßen. Nur im Pott finden Sie Kreisverkehre, die jenen legendären „Place Charles de Gaulle“ in Paris in Sachen Verkehrsstress wirklich Konkurrenz machen. Die schlimmsten Schimpfwörter habe ich in frühster Kindheit von Peter – und später dann doch auch von Rosi – beim Autofahren gelernt. „Jung, halt dir die Ohren zu!“, hieß es dann immer kurz vorher warnend. Selbstverständlich habe ich trotzdem immer alles gehört. Gegen das Gebrüll hätten auch Lärmschutzkopfhörer nicht geholfen. Und was gebrüllt wurde, war so kreativ, die beiden hätten damit Awards gewinnen können. Keines dieser Wörter habe ich je vorher und niemals wieder danach gehört. Aber die Botschaft war immer eindeutig: „Die anderen haben ihren Führerschein in der Lotterie gewonnen. Wat fällt den ein, auf meiner Straße zu stören?! Und mir hier den Weg zu blockieren?“

Opel prägte das Ruhrgebiet sehr – das vergessen wir manchmal

Ohne Auto ist man im Ruhrgebiet mächtig aufgeschmissen. Nicht, weil es an alternativen Verkehrsmitteln fehlen würde – Bahnen, auf der Straße wie unter oder über der Straße, fahren im Ruhrgebiet genügend. und Busse fahren hier wirklich an jeder Ecke. Aber ohne Auto ist im Pott nur unterwegs, wer in der Innenstadt keinen Parkplatz gefunden hat und seinen Wagen am Stadtrand parken musste. Und vielleicht noch ein paar Leute, die ihre Schätzchen in einem besonders gesicherten Garagenpark stehen haben. Wer hier aufs Autofahren verzichtet, verzichtet auf seinen Machtanspruch. Und das in jeglicher Hinsicht. Da mein Onkel Sascha ja nie Auto fuhr, war bei uns in der Familie seit jeher klar, wie wenig seine Meinung zählt. Politik? Den brauchst du nicht fragen. Wirtschaft? Verkehr? „Der fährt doch nicht mal Auto. Wie soll der denn Ahnung von Wirtschaft haben?!“ Die Meinung dazu war einhellig: Wer kein Auto fuhr, musste auch nicht den Mund aufmachen. Egal, worum es ging. Und das hat sich gehalten.

Nur im Ruhrgebiet hat Autofahren etwas Religiöses. Laut Straßenverkehrsordnung ist das planlose Herumfahren verboten – mit Ausnahme des Ruhrgebiets: hier fallen solche Freizeitfahrten ohne Ziel unter die Religionsfreiheit. Auto zu fahren ist eine Variante des Gottesdienstes. Wer kann es uns verübeln? Nach dem Ende der Zeche „Dannenbaum“, wurden mehr als 50 Jahre lang in Bochum Fahrzeuge von Opel gebaut. Stahlgehäuse, laute Motoren, der Duft von Benzin und Abgase. Erst der Opel Kadett, dann viele Jahre der Manta. Der Film „Manta, Manta“ zeugt von dieser Zeit. Das Ruhrgebiet ist geprägt von Industrie, die sichtbar Landschaften verändert, die ihre Spuren hinterlässt und manchmal auch zu hören ist. Hier wird nichts heimlich abgebaut oder hergestellt, hier wird nicht unbemerkt etwas geschaffen, was nicht auch wahrgenommen werden soll. Deswegen misstrauen wir Leuten, die kein Auto fahren. Deswegen haben wir uns die Meinung von Onkel Sascha nie angehört. Dabei ist er nie besonders dumm gewesen. Vermutlich hätte er was zu sagen gehabt, was ganz passabel gewesen wäre. Aber wir trauten dem Braten nicht. Jemand, der kein Auto fuhr, bitte?!

Autofahren prägt auch unseren Stolz

Mein Großvater hatte später dreimal einen Herzinfarkt am Steuer. Er hatte jedes Mal Glück und hat es geschafft, den Wagen vorsichtig am Rand zu parken. Nie im Leben hätte er aber darauf verzichtet, weiterhin Auto zu fahren. „Als nächstes soll ich noch das Rauchen aufhören, oder was?“ Das kam für ihn nicht in Frage. Zwei Jahre vor seinem Tod, hörte Peter aber tatsächlich mit dem Rauchen auf. Mit dem Autofahren nicht. Im Gegenteil: In seinen letzten Jahren fuhr er sogar mehr als sonst, weil er anfing, sich als Taxifahrer etwas dazu zu verdienen. Er starb an Lungenkrebs, was er – natürlich bevor er starb – nicht verstand. Denn er hatte doch aufgehört. Die 50-Jahre währende Karriere als Raucher davor, im Wesentlichen im Opel Kadett mit nur einem Spalt geöffneten Fenster vergas er geflissentlich. Das konnte es nicht sein. Und wenn er heute noch einmal von vorne anfangen könnte, er würde trotzdem wieder im Opel Kadett sitzen und rauchen. Leuten, die nicht rauchen und nicht fahren, denen kann man schlicht nicht trauen.

Der Bergbau, die Autoindustrie und auch das Autofahren haben gemein, dass sie nicht ignoriert werden können. Wir sind stolz darauf, uns nicht zu schade zu sein für den Lärm und den Schutz und auch nicht für die körperliche Anstrengung. Es passt nicht zu uns, in irgendeiner Bahn zu sitzen und zu warten, bis wir an der richtigen Haltestelle aussteigen können. Das Autofahren zeugt heute noch von den Errungenschaften und der Mentalität des Ruhrgebiets, die mit dem Steinkohleabbau begonnen hat. Deswegen können und wollen wir auch nicht drauf verzichten. Das mag für manchen pathetisch oder kitschig klingen. Aber so sind wir. Wir wollen zeigen, wie fleißig wir sind und stehen dafür auch gerne mal stundenlang im Stau. Wir wollen etwas leisten für unsere Ziele und die körperliche Anstrengung im Ruhrgebiet Auto zu fahren ist in der Tat eine Grenzerfahrung. Und auch deswegen spielt der Film „Manta, Manta“ im Ruhrgebiet und nicht in Hamburg, Berlin oder Rüsselsheim. Nur hier entwickeln die Leute eine unvergleichliche Leidenschaft für Maschinen, für Motoren und für die Industrie. Auch deshalb hat der Abschied von Opel 2014 so weh getan.

Und ja, die Region ändert sich: Mehr IT-Start-ups und Hochtechnologie verbreitet sich. Die heutige und zukunftsorientierte Industrie ist nicht mehr laut und verbirgt sich mittlerweile hinter gewöhnlichen Bürokomplexen. Aber gerade deswegen brauchen wir heute das Auto mehr denn je. Es ist für uns eine kleine Erinnerung daran, uns gerne auch die Hände schmutzig zu machen. Autofahren fahren im Ruhrgebiet kann anstrengend sein, ganz sicher sogar, es ist aber eine Anstrengung, die unseren inneren Motor am Laufen hält.

Pascal Conrads

Pascal Conrads kommt aus einer Horde mit Verwandten, die viele Geschichten zu bieten hat. Sein Großvater hat jahrelang versucht, ihn zu überreden, sich der katholischen Kirche anzuschließen und Papst zu werden. Während die Familie seines Vaters ihn gerne bei der Bundeswehr gesehen hätte. Gemeinsam enttäuscht waren dann alle als die Wahl erst auf den Zivildienst und anschließend auf ein Germanistik- und Philosophie-Studium in Mainz und Düsseldorf fiel.

Es gibt Gerüchte, Pascals Familie gehe auf ein ungarisches Rittergeschlecht aus dem Mittelalter zurück. Der Ahnenforscher, der das herausgefunden haben will, ist aber mittlerweile verstorben.

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