Die Spuren einer durchzechten Nacht waren ihm ins Gesicht geschrieben, er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Nur in Unterwäsche bekleidet stolperte er durch seine dreckige Wohnung auf der Suche nach etwas, das sich als Kater-Frühstück eignen würde. Er fand zwei Eier. Doch da seine Bratpfanne ebenso verschmutzt war wie alles andere in seinen vier Wänden, schlug er sie in ein leeres Glas und trank es mit einem Zug aus. So etwas hatte die TV-Nation zur besten Sendezeit am Sonntag nicht erwartet und bis dato auch nicht gesehen.

„Mich hat immer das Neutrale der Kommissar-Figuren genervt“, erklärt Regisseur Hajo Gies

Am 28. Juni 1981 schrieb Götz George mit dieser Szene Fernseh- und Ruhrgebietsgeschichte. Als „Tatort“-Ermittler Horst Schimanski hatte er so gar nichts gemein mit den Kommissaren seiner Zeit, etwa mit Oberinspektor Derrick, der im Münchner Nobelviertel Grünwald Villenbesitzer verhörte. Statt Schlips und Kragen trug Schimanski einen abgewetzten Parka am Körper und jede Menge Impulsivität im Herzen. „Mich hat immer das Neutrale der Kommissar-Figuren genervt, die in ihrem Trenchcoat herumliefen. Die zwar immer traurig geguckt haben, aber dann doch nicht in den Fall involviert waren“, erklärte Regisseur Hajo Gies einmal den Entwurf der Figur, die mehr Antiheld als Held war. Und tatsächlich: Kaum war damals die erste von insgesamt 29 „Tatort“-Folgen mit Götz George um, entrüsteten sich viele Zuschauer. Die „Bild am Sonntag“ etwa titelte: „Der Ruhrpott kocht: Sind wir alle Mörder oder Trinker?“ Andere forderten sogar den „Rauswurf aus dem Programm“.

George selbst hatte die legendäre Debüt-Szene damals übrigens improvisiert. Nachdem er in sechs Durchläufen insgesamt zwölf Eier getrunken hatte, musste er sich übergeben. So war er, dieser Vollblut-Schauspieler, der mit jeder Faser seines Körpers in seine Rolle eintauchte. Nur so erklärt es sich, dass ein Mann, der in Berlin aufgewachsen war und später auch in Hamburg lebte, frenetisch als Pott-Junge mit Ecken und Kanten gefeiert und Duisburg-Ruhrort dank ihm und cleverer Drehbücher zur lebendigen Bühne seiner Ermittlungen wurde.

Wenn es zu sonnig aussah im Pott, rückte die Freiwillige Feuerwehr an und tauchte Duisburg in künstlichen Regen

Ruhrort war einst das St. Pauli des Ruhrgebiets mit Rotlichtmilieu und über 120 Kneipen. Als die Kapitäne und Matrosen in den 60er Jahren ausblieben, wurde es in dem Stadtteil beschaulicher. Aber schöner? Wer den Duisburger-Tatort einschaltete, bekam Hafen, Stahlrohre, Industrie serviert. Raue Arbeiterkultur pur. Die einen waren frustriert, beklagten das einseitige visuelle Porträt ihrer Heimat. Die anderen waren stolz. Auf die verschreckend-liebevolle Faszination, die Ruhrort und der Pott an sich plötzlich auf Fernseh-Deutschland ausübten. Die ungeschönte Kulisse und der fluchende Polizist verkörperten plakativ die knorrige, aber tief moralisch-verbindliche Mentalität des Reviers. Da kann man heute auch darüber hinwegsehen, dass zu Dreharbeiten einst häufig die Freiwillige Feuerwehr bestellt wurde, die dann in einigen Szenen für die gewünschte verregnete Tristesse sorgte, wenn an dem Tag die zu fröhliche Sonne aufs Revier schien. Stereotyp hin oder her: Der Tatort Duisburg war PR. Auch wenn das viele anders sahen.

„Sollen wir denn den Kakao, durch den wir gezogen werden, auch noch selbst anrühren?“, ärgerte sich der Polizeipräsident

„Sollen wir denn den Kakao, durch den wir gezogen werden, auch noch selbst anrühren?“, kritisierte ein Polizeipräsident die Mitwirkung von Polizisten als Berater oder sogar als Schauspieler. Und Alt-Oberbürgermeister Josef Krings von der SPD etwa erzählte einmal, wie das Gesprächsthema Schimanski selbst die langweiligsten Veranstaltungen in Duisburg beleben konnte. Er gab zu, dass er erst mit der Zeit lernte, Klischeevorstellungen über das Ruhrgebiet entspannter zu sehen. Der schon verstorbene Alt-Bürgermeister Heinz Pletziger wollte indes lieber, dass das Filmteam samt seinem Kommissar aus der Stadt gejagt wird.

Es dauerte also seine Zeit, bis Schimanski seinen Weg in die Herzen der Fernseh-Zuschauer und vor allem in die Herzen der Duisburger fand. Aber dann traf er so tief, wie nur wahre Wertschätzung treffen kann. Die Duisburger Juso-Hochschulgruppe etwa schlug vor, die damals noch namenlose Gesamthochschule der Stadt nach Horst Schimanski zu benennen. Und obwohl 1991 der letzte „Schimanski“ über den Bildschirm flatterte und Götz George 2016 verstarb, gibt es bis heute eine legendäre „Schimmi“-Tour in Duisburg-Ruhrort, die an wichtigen Drehorten vorbeiführt. Wo jagten Horst Schimanski und sein Partner Thanner Verbrecher, wo hat der TV-Cop gewohnt und wo rief er zum ersten Mal „Scheiße“ (Übrigens: Nachdem die Bild-Zeitung regelmäßig veröffentlichte, wie oft das Wort „Scheiße“ gefallen war, führte Schimanskis Kollege Thanner zeitweise selbst eine Strichliste: „Bis jetzt hast du 18 Mal Scheiße gesagt“, sagt er zu Schimanski). Auch eine der Original-Filmjacken von Schimmi kann „besichtigt“ werden – im Kultur- und Stadthistorischen Museum im Duisburger Innenhafen. Am Ende der Tour kann man sogar Schimanskis Leibspeise, die Currywurst (wie sollte es auch anders sein), probieren. Mehr als 16.000 Fans aus ganz Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz wandelten bereits auf den Spuren des Parka-Trägers aus dem Fernsehen.

„Die Menschen im Pott sind schnörkellos, uneitel und liebenswert“ (Götz George alias Horst Schimanski)

War Duisburg wirklich so trist, so grau, so rau, wie die Schimanski-Episoden es übermittelten? Sind wir im Pott ständig laut, grenzüberschreitend und am Limit? Diese Fragen stellen sich dabei heute nicht mehr. Heute würde man sich inmitten des längst üppig begrünten und kulturell-bunt schimmernden Ruhrgebiets, das auf der Suche nach der neuen Mentalität aber immer häufiger ins Schwimmen gerät, manchmal einen kernigen Regelbrecher wünschen. Einen, der trotz seiner Flüche aber eben auch Sicherheit verkörperte und den unbändigen Einsatz, über Dienstschluss hinaus, weil sein Herz die Ungerechtigkeit nicht ertrug. Und die Sympathien waren stets beidseitig. „Die Menschen im Pott sind schnörkellos, uneitel und liebenswert. Eine Verbindung mit ihnen ist also eine der leichtesten Aufgaben“, sagte Götz George einmal über seine „Amtszeit“ im Ruhrgebiet. Und brachte damit alles auf den Punkt.

Apropos schnörkellose Liebenswürdigkeit. Schimanski war der Vollständigkeit halber nicht der erste, der die Zuschauer für die raue, industrielle Kulisse des Potts begeistern konnte. Türöffner zur großen Tradition des Krimis im Revier war Kommissar Heinz Haferkamp, gespielt von Hansjörg Felmy. Er trug zwar keinen Parka, sondern Rollkragen und Jackett, seine Fälle aber vermittelten von 1974 bis 1980 ein gelungenes Bild des Ruhrgebiets zwischen Industrieanlagen, Arbeitersiedlungen, Stahlwerken und Zechen (Was nur wenige wissen: Viele der Drehs fanden gar nicht in Essen, sondern in München statt).

Kommissar Haferkamp aus Essen zwischen Perspektivlosigkeit und Zusammenhalt

Nicht umsonst hatten Haferkamps Fälle oft einen sozialkritischen Hintergrund und brachten Missstände wie Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, Perspektivlosigkeit durch einen bleischwer wiegenden Strukturwandel in die Mitte Deutschlands, wenn sie über den Bildschirm flimmerten. Aber sie vermittelten eben auch die damalige Mentalität der Menschen im Revier, ihr Aufbäumen gegen den gefühlten Absturz, ihre Nachbarschaftlichkeit, ihren Zusammenhalt, ihre Solidarität.

Und auch wenn der Jazz-Musik hörende Ermittler im Audi 80, der mit Fußball nichts anfangen konnte, auf den ersten Blick wenig gemein hatte mit einem knorrigen Typus à la Schimanski, so markierte Felmys Haferkamp bereits den Beginn eines Pott-Ermittlers, der Sicherheit vermittelte, weil er sich in seine Fälle verbiss, für seine Erfolge auch mal konventionelle Wege verließ und sich so ungern etwas sagen ließ von seinen Vorgesetzten.

RAF und Geiseldrama: Die realen Krimi-Welten lasteten schwer auf den Gemütern

Die 1970er bis 1990er Jahre, in die beide Pott-Tatorte fielen, waren damals übrigens auch in Sachen Kriminalität von einer Art Wandel geprägt. Die Terrorakte der RAF hielten Deutschland und damit auch NRW in den 1970er Jahren in Atem. Die 1980er Jahre standen unter anderem im Schatten des Gladbecker Geiseldramas und dem damit verbundenen Einsatz-Desasters der Polizei. Die 90er Jahre begannen im April 1990 mit dem Attentat auf Oscar Lafontaine in Köln. Das Sicherheitsgefühl der Menschen sank, das steigende Bedrohungsgefühl mischte sich mit den Eindrücken eines Bedeutungsverlustes durch schließende Zechen und Industriewerke. Dass es für den kurzzeitigen Seelenfrieden eine Art Aufräumer brauchte, der zumindest im TV alles wieder nach 90 Minuten in Ordnung gebracht hatte, wundert nicht.

Dortmunds Ermittler Farber: Weniger Klischees, aber genauso viel Kritik

Was allerdings verwundert ist, dass es 20 Jahre dauerte, bis mit Kommissar Peter Faber aus Dortmund wieder ein Tatort aus dem Ruhrgebiet über den Bildschirm flimmerte. Seit 2012 gräbt sich der von Jörg Hartmann gespielte Ermittler durch tiefdunkle Fälle und seine eigene von Dämonen getriebene Psyche, Resultat des brutalen Mordes an Frau und Tochter. Die Haare sind zerzaust, die Kleidung verknittert, Bartstoppel zeichnen sein Kinn. Ja, wir sind uneitel im Revier, konzentrieren uns auf das Wesentliche, die Botschaft kommt trotz klischeehafter Insignien an. Insgesamt gelingt es dem Dortmunder Tatort aber mit weniger Stereotypen auszukommen als die Kollegen von früher. Das Bild, das von der Metropole im Pott gezeichnet wird, ist recht facettenreich. Düster, wo es düster ist, modern, wo der Wandel gelungen scheint. Zechenturm, Fabrikgebäude, aber eben auch Start-ups und blühende Kultur. Auch Faber kann es trotzdem nicht allen recht machen.

Legendär ist der Brandbrief des ehemaligen Oberbürgermeisters von Dortmund, Ullrich Sierau (Amtszeit 2009 bis 2020), den er 2019 an den WDR richtete. „Fortwährendes Mobbing gegenüber einer Stadt, einer Region sowie den dort lebenden Menschen“ nannte er die damalig gesendeten Folgen. „Stecken Sie die Münchener Kommissare in Lederhosen und lassen Sie diese minutenlang Schuhplatteln - es wäre derselbe Effekt, es wäre genauso daneben. Die Macher dieser Folge geben die Menschen einer Region der Lächerlichkeit preis, in dem sie diese Bier trinkend in Trainingsanzügen vor heruntergekommenen Häusern herumstehen lassen. Mehr Klischee geht nicht.“ Sierau schloss seinen Wut-Letter mit den Worten: „Ich persönlich hätte nichts dagegen, wenn Sie den Dortmund-Tatort einstellen und Kommissar Faber und sein Team in den vorzeitigen Ruhestand schicken würden.“

„Ich weiß, wie viele Facetten die Stadt hat. Aber wir zeigen nun mal auch Abgründe“ (Schauspieler Jörg Hartmann)

Dass der Tatort aus Dortmund heute, 2024, noch immer da ist, zeigt wohl zweierlei: Dass Klischees keine Quotenkiller sind und, dass sich über ein bestimmtes Maß der Verdichtung und Überzeichnung eben auch Botschaften vermitteln lassen. Oder wie Hartmann es als Reaktion auf den Brief auf den Punkt brachte: „Ich weiß, wie viele Facetten die Stadt hat. Aber wir zeigen nun mal auch Abgründe. Wenn man sich die schönen Seiten wünscht, dann ist man beim Tatort allgemein nicht ganz so gut aufgehoben."

„Du gehst da allein in eine Kneipe und kommst mit zwei neuen Kumpels wieder heraus“

Gut aufgehoben fühlt sich Hartmann selbst auch heute noch im Ruhrgebiet. Trotz gelegentlicher Kritik und trotz der Tatsache, dass der in Hagen geborene und in Herdecke aufgewachsene Schauspieler mittlerweile in Potsdam lebt, ist hier immer noch Heimat. Schwester und Mutter wohnen im Pott. „Auch darüber hinaus gibt es noch ein paar Leute, die mir wichtig sind“, so der Schauspieler. „Ich bin häufig im Ruhrgebiet und fühle noch einen starken Bezug.“ Er schätze vor allem das Geradeheraus-sein, die zwar schwindende, aber immer noch spürbare Zusammenhaltsmentalität. „Vielleicht hat es tatsächlich mit dieser alten Bergmannstradition zu tun, wo man sich aufeinander verlassen musste, um zu überleben. Das hat sich als Geist und Umgangsform in der Region festgesetzt. Noch heute ist es so: Du gehst da alleine in eine Kneipe und kommst mit zwei neuen Kumpels wieder heraus“, so Hartmann gegenüber der Teleschau.

Seine Liebeserklärung ans Revier hat der TV-Kommissar jetzt auch zu Papier gebracht. In seinem Buch „Der Lärm des Lebens“ (Rowohlt) erzählt er die tief-berührende Geschichte seiner Eltern und Großeltern. Manchen, der nicht zwischen Misanthrop Faber und dem reellen Hartmann unterscheiden kann, mag das vielleicht überraschen. Für alle anderen ist es vermutlich schon längst klar: Never judge a book by its cover. Das fiktive verbrecherische Ruhrgebiet auf dem Bildschirm mag vielleicht manchmal zu grau, zu perspektivlos und rau daherkommen. Aber unter der harten Schale ist eben der weiche Kern. So fühlen wir uns sicher. Offenbar sind wir eher Parka (natürlich trägt auch Faber aus Dortmund einen) als Trenchcoat, mehr Eier-Cocktail als Schampus und eher Kiosk als Sterne-Restaurant. Auch wenn wir all das natürlich haben in der Metropolregion. Wenn man jedoch acht Millionen Menschen an den Bildschirm lockt, obwohl man die grauen Seiten hinter dem vermeintlich glänzenden Cover zeigt, dann scheint das echte Leidenschaft fürs Revier zu sein. Und da dürften einige Klischees doch verschmerzbar sein.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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