Was ist für Sie die typische Ruhrgebiets-Mentalität? Haben wir eine solche überhaupt noch?

Für mich ist die Ruhrgebiets-Mentalität tief, vielleicht sogar untrennbar verbunden mit dem Bergbau. Unter Tage arbeiteten verschiedenste Menschen, verschiedenste Nationen miteinander. Solidarität und Integration funktionierten automatisch. Denn diese Menschen mussten aufeinander Acht geben, um die schwierigen, teils lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen zu meistern. Sie einte zudem ein großer Stolz, ein „Wir versorgen das ganze Land mit Energie“-Stolz. Und auch über Tage brach dieses besondere Gemeinschaftsgefühl nicht ab. Die Bergleute lebten zusammen in den für sie erschaffenen Siedlungen, man kaufte in denselben Läden ein, man feierte gemeinsam, man pflegte eine Nachbarschaft der Hilfsbereitschaft. Mit den letzten Bergleuten ist diese spezielle Mentalität aus meiner Sicht verschwunden. Oder zumindest hat eine Art Sinnverlust eingesetzt. Und es ist schwierig, ein neues Solidaritätsgefühl, das so identitätsstiftend wie das alte, zugegebenermaßen auch romantisierte Bild ist, zu etablieren.

Gibt es denn zumindest Kleinigkeiten des großen, alten Bildes, die erhalten geblieben sind? Einen bestimmten Wert, bestimmte Charakteristika?

Die Klarheit und Direktheit. Im Ruhrgebiet kommt man schnell zur Sache. Man schwafelt nicht, sondern spricht klar aus, was man denkt. Und auch die Tatsache, dass die Zechensiedlung als System-Architektur bis heute recht gut funktioniert. So erlebe ich es zumindest beispielhaft in Oberhausen. Hier werden die Siedlungen vor allem von jungen Leuten bewohnt und mit Leben und auch Nachbarschaftszusammenhalt gefüllt.

War Ihre Familie auch im Bergbau tätig?

Mein Großvater war Bergmann, mein Vater war Bergmann und vermutlich wäre ich auch Bergmann geworden, wenn das möglich gewesen wäre. Stattdessen habe ich zunächst einmal Lehramt studiert und der Rest ist Geschichte. Ich habe aber noch viele Bilder von damals im Kopf (lacht). Und nicht nur idealisierende. So sehe ich mich z.B. noch als Kind auf verdreckten Feldern spielen. Fiel man hin, bohrten sich die schwarzen Schlieren tief in die Haut (lacht). Bis heute habe ich noch dieses leichte „Ruhrgebiets-Tattoo“ an meinen Knien.

„Bis heute habe ich noch dieses leichte 'Ruhrgebiets-Tattoo' an meinen Knien.“

Gerburg Jahnke, Kabarettistin

Glauben Sie, dass junge Menschen heute die Bergbau-Zeit überhaupt noch präsent haben?

Doch, ich denke schon. Das Grundwissen ist da, bei einigen bestimmt auch eine gewisse Verbundenheit. Dafür sorgen allein schon die tollen Kulturdenkmäler, die auf und in Zechen entstanden sind – und die ja auch von Schulklassen regelmäßig besucht werden. Auch die vielen Merchandise-Produkte rund um die damalige Zeit, etwa Kohleseife oder Zechen-Handtücher, scheinen ja erfolgreich zu sein. Natürlich hat das etwas von Ruhrgebiets-Tourismus, aber aus meiner Sicht sind Berührungspunkte dieser Art besser als gar keine Berührungspunkte.

Und funktioniert die Region heute noch als solche? Als solidarisches Miteinander?

Aus meiner Sicht fehlen da oft die wirklichen Visionen, sowohl im Bereich des wirtschaftlichen Strukturwandels als auch im kulturellen Bereich. Jede Stadt im Ruhrgebiet arbeitet eher für sich statt übergreifend. Das fängt schon damit an, dass man sich Veranstaltungen mühselig auf vielen unterschiedlichen Internet-Seiten ergoogeln muss, statt sie komprimiert auf einer zu finden. Auch verkehrstechnisch hat das Ruhrgebiet noch viel Arbeit vor sich.

Können‘s andere besser?

Ob sie es wirklich besser können, sei einmal dahingestellt. Aber ich habe zum Beispiel das Gefühl, dass alles, was kulturell aus Großstädten, vor allem Hamburg, kommt, gleich eine Art mediales Gütesiegel verpasst bekommt. Da stürzen sich Zeit, Spiegel und Co. auf den kleinsten Schnipsel. Was für eine wertvolle, große kulturelle Schmiede das Ruhrgebiet ist, und das schon seit Jahrzehnten, nehmen immer noch viel zu wenige Menschen wahr.

Und steht uns vielleicht, wie so oft in diesem ganzen Land, auch die Bürokratie im Weg?

Definitiv. Das erste Problem ist, dass viele Entscheider-Schreibtische, die Projekte für das Ruhrgebiet entwerfen, gar nicht im Ruhrgebiet stehen, sondern zum Beispiel in Berlin. Das zweite Problem ist, dass viele Ideen Nicht-Konzepte sind, die kurzzeitig gedacht und oft von einer gewissen Hilflosigkeit geprägt sind. Und drittens fehlt bei vielen überhaupt der Mut, Entscheidungen zu treffen. Wenn zum Beispiel Ladenlokale lieber leer gelassen werden, statt für eine kleinere Miete an junge Leute mit einer tollen Idee zu vermieten. Oder der tausendste Handy- oder Euroshop entsteht, weil da mehr Miete eingeht. Oder wenn ein großes Einkaufszentrum in direktester Nähe zur Innenstadt dafür sorgt, dass diese noch leerer bleibt. Und manchmal sind es die Ruhrgebietler selbst, die nicht genau hinsehen: Wie oft erlebe ich zum Beispiel, dass Menschen von einem Kurztrip aus Berlin zurückkommen und von der dortigen Kunstszene schwärmen. Ohne wahrzunehmen, dass genau diese Künstler auch schon im Ruhrgebiet, etwa in Oberhausen im Ebertbad, gespielt haben.

Trotz mancher Widrigkeit sind Sie dem Pott immer treu geblieben. Dabei haben sie beruflich ganz Deutschland gesehen…

Besonders während unserer Missfits-Zeiten war ich teilweise bis zu drei Wochen in verschiedenen Großstädten, habe sie also wirklich erleben können. Und dennoch fand ich es immer toll, wenn ich auf dem Rückweg endlich auf der A42 fuhr, diesen besonderen Heimatgeruch erschnuppert und diesen speziellen, immer irgendwie leicht grauen Himmel des Ruhrgebiets erblickt habe. Ich bin und bleibe ein echtes Pottkind. Selbst als so viele Kolleginnen und Kollegen damals nach Köln gingen, bin ich geblieben und habe ein innerliches „Geht doch nicht alle weg!“ hinterhergeschickt. Und jetzt freue ich mich, dass tatsächlich viele zurückkommen in den Pott.

Wie wichtig ist Humor im Ruhrgebiet? Und vielleicht auch im Besonderen, wenn man den nicht so ganz besonders gelungenen Strukturwandel zu verkraften hat?

Ich sag mal so: Humor ist ohnehin die einzige Möglichkeit, die ein kreatives Meckern erlaubt. Wozu es in der Region sehr viele Anlässe gibt. Wir haben vor einiger Zeit ein Stück über das Ruhrgebiet gemacht, in dem viel Spott und Gemecker stattfindet („Pommes“). Und sehr viel gelacht wird. After Show verlassen die Menschen das Theater mit dem Gefühl: „So isses! Nicht alles schön, aber Heimat“.

 

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Das ist Gerburg Jahnke

Die Kabarettistin, Regisseurin und Schauspielerin wurde am 18. Januar 1955 als Tochter eines Bergmanns in Oberhausen-Osterfeld geboren. Sie studierte nach dem Abitur zunächst Kunst und Germanistik, entschied sich nach dem Ersten Staatsexamen jedoch gegen den geplanten Schuldienst und für eine Bühnenkarriere. Zusammen mit ihrer Studienkollegin Stephanie Überall wurde sie schließlich beim Frauen-Straßentheater aktiv, 1988 gründeten die beiden das Kabarett-Duo „Missfits“, das mit seinem ehrlich-frechen Programm bald bundesweit ein großes Publikum eroberte.

Bis heute steht Geburg Jahnke auf der Bühne und wirkt in zahlreichen Comedy-Formaten und auch Filmen mit. 2004 erhielt sie die Auszeichnung „Bürgerin des Ruhrgebiets“, 2018 den Deutschen Comedypreis. Die Bergmannstochter lebt immer noch in Oberhausen und ist mit Hajo Sommers verlobt, dem ehemaligen Präsidenten von Rot Weiß Oberhausen.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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