Es ist eine Geräuschkulisse, die ich nie vergessen werde. Wenn ich bei meinen Großeltern übernachtete, scharrte, flatterte und gurrte es im Stockwerk über mir, sobald die Tauben erwachten. Mein Opa war stolzer Besitzer zweier großer Schläge, sowohl im Dachgeschoss als auch im Garten (für die Zuchttauben). Manchmal durfte auch ich mir einen weißen Kittel anziehen und mit zu den „Kröppern“, wie er seine Tiere gern nannte. Meistens aber durfte man als Laie gar nicht mit. Schließlich waren es echte Kostbarkeiten, die dort herumflatterten. Mein Opa erzählte mir gern, dass sie vor Schreck von der Stange fallen würden, wenn nicht ihr Taubenvater, sondern ein ihnen fremdes, lautes Kind dort vor ihnen stünde. Ob das wirklich stimmte? Ich hätte niemals den Mut besessen, es auszuprobieren. Denn irgendwie lagen mir die Tiere, die meinen Großvater so glücklich machten, auch am Herzen.

Bis heute bin ich fasziniert von ihren unglaublichen Fähigkeiten. Eine Brieftaube findet, egal wo man sie auch aussetzt, nach Hause. Sonnenstand oder Erdmagnetfeld würden ihnen hierbei helfen, sagen Forscher. Auch die Orientierung an Flüssen, Bergen, Häusern und Co. würde ihnen gelingen, sagen andere. Woher sie aber wirklich wissen, wo ihr „Vatter“ wohnt, ist bis heute nicht endgültig wissenschaftlich erwiesen. Von wegen „Rennpferd des kleinen Mannes“, wie sie so oft spöttisch genannt werden: Brieftauben sind mystische Supertalente.

Wenn der „Konkurs“ die schönste Nachricht am Sonntag war

Sie hießen bei meinem Opa wie ihre Ringnummer oder auch mal Hans, egal ob männlich oder weiblich. „Komm, Hans, komm“, rief mein Opa immer, wenn er die Tauben herbeilockte. Langstrecken waren seine Spezialität und wenn er sonntags in der Einsatzhalle den ersten oder zweiten Konkurs einheimsen konnte, war die Laune bestens. Lustigerweise hat der Begriff nämlich rein gar nichts mit „Pleite“ zu tun, sondern mit einer guten Platzierung in der Preisliste. Den erreicht die Taube nur dann, wenn sie besonders schnell zurückfindet, zum Beispiel aus Polen oder Dänemark zurück ins Revier. Wenn das Schicken ein Flop war, nahm mein Opa die Leistung des Blauschecks, Schimmels, des Roten oder des Gehämmerten (ich hoffe, ich zitiere die verschiedenen Arten aus den Untiefen meines kindlichen Gedächtnisses richtig) persönlich. Bisweilen sogar so persönlich, dass der gefiederte Sportler, der besonders versagt hatte, bei der nächsten Tour im Schlag bleiben musste. Noch persönlicher wurde es dann, wenn eine Taube gar nicht mehr heimfand, was zum Glück sehr selten vorkam. Kaum ein Anruf war in solch einer Situation erlösender als der eines Taubenvaters in der Nähe, wenn er das fremde Tier bei sich im Schlag entdeckt hatte.

 

In der Hochzeit der Brieftauben gab es gleich mehrere Vereine, selbst in kleinen Städten, es gab Hunderte Mitglieder pro Club und sogar einen zünftigen Taubenball, bei denen auch die Ehepartnerinnen und -partner tüchtig mitfeierten. Und mal nicht schimpften, über die Federn, den Staub und auch die bisweilen steigenden Kosten des aufwendigen Hobbys. Es entstanden innige Freundschaften in den Vereinen, man tauschte sich längst nicht mehr nur über Touren, Taubenmedizin oder Zuchttiere aus, sondern hielt auch in stürmischen gesundheitlichen, beruflichen und privaten Zeiten fest zusammen. Brieftauben, sie gehörten zum Pott wie Fördertürme.

In Aachen wurde um 1834 der erste offizielle Verein gegründet

Mutterland des Taubensports ist Belgien, die deutsche Geschichte des Brieftaubensports nahm ihren Anfang in Aachen. Hier fanden sich um 1834 einige Freunde der gefiederten Leistungsträger zusammen, um den ersten Brieftaubenzuchtverein zu gründen: „La Colombe“, die „Brieftaube“. Die Industrialisierung mit Etablierung der Eisenbahn sorgte dafür, dass sich die Leidenschaft verbreitete, ins Bergische Land, nach Thüringen, in Teile Norddeutschlands – und ins Ruhrgebiet. Mit „Columba“ wurde um 1860 auch die erste Fachzeitschrift für begeisterte Brieftauben-Fans etabliert, 1884 schließlich der Verband Deutscher Brieftaubenzüchter e.V. in Essen gegründet. Letzterer stand jahrzehntelang im Zeichen des militärischen Nachrichtenwesens. Im Ersten Weltkrieg etwa wurden die Tiere mit der ausgeprägten Orientierungsfähigkeit eingesetzt, um den Nachrichtenfluss aufrecht zu erhalten. So transportieren Brieftauben kleine Röhrchen mit Fotografien und anderen wichtigen Informationen, wenn Telefon- und Telegrafenleitungen zerstört worden waren. In Friedenszeiten aber durften sich die Taubenzüchter ganz der sportlichen Liebhaberei widmen, nach dem Zweiten Weltkrieg waren Brieftauben dauerhaft ein privates Vergnügen.

 

Im Ruhrgebiet der industriellen Ära waren die Wohnbedingungen oft beengt und die Arbeitsbedingungen hart. Die Taubenzucht bot den Arbeitern eine willkommene Abwechslung und einen Ausgleich zum schweren Berufsalltag. Wer ständig unter der Erde schuftete, hatte verständlicherweise eine besonders große Sehnsucht nach Luft, Freiheit, Himmel und Flügelschlägen. Bis Mitte der 1960er-Jahre erlebte der deutsche Brieftaubensport seine Hochzeit. Von 1956 bis 1966 stieg die Mitgliederzahl im Verband von 80.000 auf 102.000, vor allem wegen der tatkräftigen Beitritte im Pott. Auch in den 80er-Jahren, in denen ich aufgewachsen bin, war der Zuspruch noch rege. Liebend gern besuchte ich die Taubeneinsatzhalle, freute mich auf die Veranstaltungen des Vereins samt Tombola mit bisweilen skurrilen Preisen – und jeder Menge netter Begegnungen. Die Diskussion über den Dreck und den Aufwand rund um Opas „Kröpper“, die meine Großmutter sehr leidenschaftlich führen konnte, gehörte für mich noch bis in die 2000er-Jahre zum sonntäglichen Mittagessen. Ebenso die vielen Tricks im Umgang mit Tiergesundheit, von denen heute sogar noch mein Hund profitiert, auch wenn der ganz sicher nicht über mehrere 100 Kilometer nach Hause finden würde.

Tauben hat man nicht einfach so nebenbei. Sie brauchen täglich ungefähr drei Stunden Aufmerksamkeit, eine sehr gute gesundheitliche Versorgung (allein zwei Impfungen pro Jahr) und viel Geschick und Geduld im Training, wenn man wirklich erfolgreich sein will. Erst lässt man sie nur etwa fünf Kilometer fliegen, dann steigert man sich in den zweistelligen Bereich und erst wenn sie sicher bei etwa 200 Kilometern wieder nach Hause finden, kann man über Wettkämpfe nachdenken. Auch das Futter ist eine Wissenschaft für sich. Mein Opa hatte seine ganz eigene Mischung und jeder Taubenvater oder jede Taubenmutter hatte wiederum eine andere. Diesem Aufwand ist es zu Teilen geschuldet, dass das Hobby in den letzten Dekaden an Zuspruch verloren hat. Auch die Kosten schrecken ab. Zugleich werden Züchterinnen und Züchter mit immer häufigeren Attacken von Raubvögeln konfrontiert. Vor allem aber ist mit dem Ende des Bergbaus auch ein Berufsstand weggebrochen, in dem der Sport wohl am stärksten verankert war.

Ganz erloschen ist die Liebe zu den himmlischen Rekordhaltern jedoch nicht. „Schlaggemeinschaften“ feiern derzeit ihr Comeback im Ruhrgebiet. Heißt: Mehrere Taubenbegeisterte teilen sich Tiere und eben den Schlag sowie Zeit und Kosten. Und längst hat das Hobby aus dem Revier die Welt erobert. In China, Südafrika oder Japan etwa boomt der Markt mit den gefiederten Rennern, für eine gute Zuchttaube werden zum Teil astronomische Summen gezahlt, sogar mal über eine Million Euro. Selbst im sparsamen, bodenständigen Ruhrgebiet sind vierstellige Preise für eine gute Taube heute oft die Regel.

 

Auch mein Opa erzählte gern von einer solchen Erfahrung. In den 60er-Jahren hatte er seinem belgischen und ebenfalls taubensportbegeisterten Cousin eine Täubin geschenkt. Auf einem Nationalflug in Belgien holte eben dieses Tier den ersten Platz. Kurz darauf erhielt Opas Cousin Besuch aus Japan, der Japaner zahlte umgerechnet 5000 DM in bar für die Siegerin der Lüfte. Stolz zog er mit der Taube von dannen, hatte er doch ein Tier aus dem im Taubensport so renommierten Belgien erstanden. Dass der Vogel aber eigentlich mitten im Revier das Licht der Welt erblickt hatte, verrieten mein Opa und sein Cousin ihm nicht.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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