Sind leere Kirchenschiffe Zeichen einer längst vergangenen Ära oder das Signal für einen Neubeginn?
Wir leben in einer pluralisierten Gesellschaft. Selten haben Menschen so nach den eigenen individuellen Bedürfnissen und Interessen gelebt, wie heute. Vieles, was lange als selbstverständlich galt, als Tradition und feste Struktur unserer Gesellschaft, ist es heute nicht mehr. Die Innenstädte sterben, die Kneipen auch, der Bergbau ist Geschichte. Auch die Kirche ist von diesem strukturellen Wandel getroffen. Eine neue Entwicklung ist das alles nicht. Bereits seit Jahrzehnten gab es Anzeichen für den Rückgang der Gläubigen und die Neuausrichtung der Kirche.
Und doch ist die Kirche, das Gotteshaus, die Präsenz in der Gemeinde für viele Menschen ein wichtiger Bestandteil – oder war es zumindest für einen Großteil ihres Lebens. Gerade im Ruhrgebiet ist die Kirche viele Jahrzehnte lang eng mit dem Selbstverständnis der Menschen und vor allem mit dem Bergbau verbunden, galt doch die Heilige Barbara als Schutzpatronin der Bergleute. Doch die Kirchen werden weniger, ganze Gebäude verschwinden aus der städtischen Infrastruktur. Was macht das mit den Menschen? Vermissen sie die Kirche? Oder gilt vielmehr: Aus den Augen, aus dem Sinn?
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„Die Bedeutung der Kirche als Ort, in dem Menschen Gottesdienste besuchen können, ist stark zurück gegangen“, sagt Dr. Michael Dörnemann. Er ist seit 28 Jahren Priester im Bistum Essen, hat in Oberhausen, Bochum und Essen gearbeitet, ist nun Geistlicher in der Gemeinde St. Gertrud, mitten in der Essener Innenstadt. Eine Kirche, die ebenfalls in den nächsten Jahren aufgegeben werden wird.
„Das Verständnis von Glauben und die Bedeutung der Kirche hat sich in den letzten Jahrzehnten extrem gewandelt“, sagt Dörnemann. „Die Kirche hat dieser Entwicklung zu lange nichts entgegengesetzt.“ Wie ist es so weit gekommen? Abseits der Missbrauchsvorwürfe, die immer wieder aufkommen, habe sich die Gesellschaft anders orientiert. „Ab den 1970er Jahren sind die Leute mehr gereist, haben neue Leute, Kulturen und auch Religionen kennengelernt. Viele haben dadurch auch begonnen, ihren Glauben und die Kirche zu hinterfragen und dabei erkannt, dass sie sich damit nicht mehr identifizieren können.“
Die Folgen sind bekannt: Insbesondere nach der Jahrtausendwende wurden immer mehr Kirchen geschlossen. Der Grund: Die Messen, teils mehrere am Tag, wurden immer schlechter besucht, das Engagement in den Gemeinden sank, Pfarrfeste oder besondere Aktionen der Kirche waren durch fehlende Freiwillige nicht mehr stemmbar. Eine Entwicklung, sichtbar in ganz Deutschland. Aber eben auch im Ruhrgebiet. Diese Entwicklung ist seitdem nur gravierender geworden. „Auch in den Christmetten an Heiligabend, für die Familien sich früher schon Stunden vorher angestellt haben, sind mittlerweile noch bis zu 10 Minuten bis Beginn entspannt Plätze zu bekommen, da sollten wir uns nichts vormachen“, reflektiert Dörnemann.
Dem entgegen stehen die Gläubigen, die besonders gern in ihrer Heimatkirche zur Messe gehen, die dort Taufe, Kommunion, Firmung oder die eigene Hochzeit erlebt haben. Ein Anker im Lebenslauf, aber eben auch in der Nachbarschaft. Eine Anlaufstelle, ein Rückzugsort. Die Kirche, die Steine, der Ort als geografisches Ziel, das bedeutet vielen Menschen noch etwas. „Aber es werden immer weniger. Daher ist es für uns auch wichtig, anders für die Menschen da zu sein. Wir setzen auf Präsenz in Altenheimen, Kindergärten, aber auch Schulen.“ Allein in Essen seien das insgesamt noch vier Schulen, die der katholischen Kirche angehören; im gesamten Bistum sind es sieben; zwei in Duisburg, eine in Gladbeck. „Hier in Essen sind die Plätze an unseren Schulen gefragt. Manchen Eltern ist es wichtig, ihr Kind auf eine katholische Schule schicken zu können.“
Doch auch dies könne die Entwicklung der Kirche kaum aufhalten. Bei einer Prognose, wie viele kirchliche Gebäude es in zehn oder 15 Jahren im Ruhrgebiet, im Bistum Essen, geben wird, ist Dörnemann realistisch. „Wir werden noch sehr viele Einrichtungen schließen müssen, da bin ich mir sicher.“
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Gerade im Bistum Essen könnte diese Entwicklungen hunderte Gebäude treffen. Gebäude, die dann keine Relevanz mehr für die Bürger haben und irgendwann vielleicht sogar endgültig aus dem Stadtbild verschwinden. Kann Kirche so noch Teil des Heimatverständnisses bleiben? „Das Ruhrgebiet war eigentlich nie ein großer Kirchgänger – auch ein Grund, warum Bischof Kardinal Franz Hengsbach in den 1960er Jahren mehr Kirchen im Stadtgebiet bauen ließ. Kein Gläubiger sollte länger als einen Kilometer bis zur nächsten Kirche laufen müssen.“
Der katholische Glaube spielte eine besonders im 19. und frühen 20. Jahrhundert prägende Rolle im Bergbau und in Bergbauregionen wie dem Ruhrgebiet. In verschiedenen historischen Phasen unterstützte die Kirche außerdem die Forderungen der Bergleute nach besseren Arbeitsbedingungen, höheren Löhnen und sozialer Gerechtigkeit. Doch auch diese Episode ist – spätestens seit dem Ende der letzten Zeche in Bottrop 2018 – Geschichte.
Für viele Menschen fällt der Besuch einer Kirche nicht mehr in ihre Alltagsplanung. Aber: „Besonders die Messen am Morgen werden von vielen Geflüchteten besucht, die noch vor der Arbeit Kraft im Glauben suchen und finden“, erzählt der Priester. Wenn diese die deutsche Sprache noch nicht beherrschen, behelfen sich die Menschen laut Dörnemann oftmals mit ihren Handys, übersetzen sich die Texte selbst. „Katholische Messen sind überall auf der Welt ähnlich, sie alle folgen einem gewissen Schema. Da kann auch jemand aus Afrika oder den USA folgen.“ Die Zuwanderung belebt also die katholische Kirche? „Meine Beobachtungen sind, dass zumindest in unserer Kirche schon einige Messen weniger angeboten werden könnten, wenn Menschen aus anderen Ländern sie nicht besuchen würden.“
Trotz allem lassen sich die Spuren der Säkularisierung, also der Bedeutungsverlust von Religion und Kirche in der Gesellschaft, im Bistum Essen nicht leugnen. Auch den Priester lassen diese Entwicklungen nicht kalt. Aber: „Ich habe gelernt, dass es nichts bringt, mit Nostalgie auf die Vergangenheit zu blicken. Unser Augenmerk muss auf der Zukunft liegen und wie wir die Menschen weiterhin erreichen können, gerne auch auf kreativem Wege und auf ihre individuellen Bedürfnisse angepasst.“ Kirche als Zufluchtsort und als Anlaufpunkt solle aber nicht unterschätzt werden. „Oft ist die Kirche ein Ort der Stille und der Besinnung. Das ist auch für Menschen eine Erleichterung, die sonst nichts mit der Kirche anfangen können.“
Was Michael Dörnemann wichtig ist, ist die Rolle der Kirche außerhalb der kirchlichen Mauern. Schließlich ist die katholische Kirche auch im Ruhrgebiet weiterhin ein wichtiger Teil in der sozialen Landschaft, engagiert sich öffentlich in Themen wie sozialer Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung und setzt sich für einen interreligiösen Dialog ein. „Glaube ist kein Ort. Glaube ist das, was wir daraus machen. Wie wir unser Leben führen und mit unseren Mitmenschen umgehen. Glaube kann überall gefunden und gelebt werden.“
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