Dr. phil. Holger Schmenk ist Historiker, Pädagoge – und Musik-Fan. Der Schulleiter hat über die Entstehung und Entwicklung der Metal-Szene im Ruhrgebiet schon einige Bücher geschrieben. Sein neuestes Werk, das Ende August erscheinen wird, beleuchtet die Rolle von populärer Musik im Geschichtsunterricht. Im Interview verrät der Experte, warum das Revier und harte Metal-Töne so gut zusammenpassen und wie das Ruhrgebiet sich in sein Herz gebrannt hat.

Welche Bedeutung hat Musik aus Ihrer Multi-Perspektive als Geschichtswissenschaftler, Pädagoge und Musik-Experte für die Bildung oder Festigung einer Identität oder sogar Mentalität?

Die richtige Musik in der dazu passenden Stimmung erzeugt bekanntlich Emotionen unterschiedlichster Art. Populäre Musik ist allgegenwärtig. Als Historiker sehe ich, dass musikalische Strömung zur Bildung von Subkulturen geführt haben, die eigene Identitäten mit sich bringen. Sicherlich spiegelt sich die Mentalität des Ruhrgebiets auch in der regionalen Musik wider: Insbesondere im Thrash Metal finden wir einen sehr eigenständigen Sound, der immer wieder auf die harte Arbeit, die rauen Lebensbedingungen in der Region zurückgeführt wird.

Als Pädagoge ist Musik für mich vor allem ein Unterrichtsmittel als Gegenstand oder Quelle: Songs lassen sich ganz wunderbar z.B. in den Geschichtsunterricht einbauen, um Schülerinnen und Schülern zu motivieren, exemplarisch die Haltung einer Gruppierung bzw. einen Zeitgeist zu analysieren. Musik drückt sehr viel über die jeweilige Zeit aus. Dabei verwende ich neben Heavy Metal-Songs z.B. typische Popsongs der 80er wie „Vamos a la playa“, zu denen die Jugendlichen bis heute unreflektiert tanzen. In dem Text geht es aber eigentlich um ein apokalyptisches Szenario, genauer die Folgen einer Atomkatastrophe, untermalt von gewöhnungsbedürftigen elektronischen Disco-Rhythmen.

Als Musik-Fan ist Heavy Metal fester Bestandteil meines Lebens. Schon auf dem Weg zur Arbeit höre ich im Auto Musik, Metal ist für mich ein Stück weit Ausgleich, aber auch Lebenseinstellung, motiviert beim Sport, erzeugt Emotionen.

Experte Holger Schmenk, Schulleiter und Metal-Fan, hier 2017 im Rahmen seines Buches "Kumpels in Kutten"; Credit: Heiko Kempten / IMAGO / Funke Foto Services

 

Wann und wie sind Sie zum ersten Mal mit der Metal-Szene in Berührung gekommen, was hat Sie an diesem Genre besonders fasziniert? 

1995 durch meine damalige Freundin und heutige Frau Nicole, die bereits fest in der Szene verankert war und mir Bands wie Iron Maiden oder Sepultura nähergebracht hat. Ich vergleiche das immer gerne mit einem Virus: Wenn man einmal von den Emotionen und der Kraft der Metal-Musik ergriffen wurde, lässt einen das nie wieder los. Aber auch die Menschen in der Szene begeistern mich, weil man unfassbar viele tolerante und soziale Menschen trifft, deren gemeinsame Basis eben jene Musik ist.  

Wieso passen die Metal-Szene und das Ruhrgebiet so gut zusammen? 

Es gibt immer das Klischee, dass harte Arbeit und Thrash Metal der Marke Sodom und Kreator so gut zusammenpassen würden. Das halte ich für Unsinn. Die Metal-Szene und das Ruhrgebiet passen aus ganz anderen Gründen so gut zusammen, was unter anderem mit dem Strukturwandel in den 80er Jahren zusammenhängt: Hier gab es deutlich mehr Jugendzentren mit kostengünstigen Proberäumen als in anderen Großstädten, so dass man eine wichtige Basis hatte, um eine Band zu gründen. Es kommen weitere Faktoren dazu: Die Nähe zu den niederländischen Häfen, an denen Metal-Platten aus England und den USA ankamen und über findige Geschäftsleute ins nahegelegene Ruhrgebiet transportiert wurden. Nicht zu vergessen die zahlreichen Locations in der Region, die die Möglichkeit boten, hier aufzutreten: Die Konzertreise „Rock Pop in Concert“ 1983, darunter in der Dortmunder Westfalenhalle, war sicherlich der Startschuss für die Metal-Szene in Deutschland. Ein Stück weit stimmt es aber schon, dass die Bodenständigkeit des Metal mit den Menschen im Ruhrpott so gut zusammenpasst.  

Die Rockdisco Turock in Essen; Credit: A. Hirtz / IMAGO / Funke Foto Services

 

Wie hat sich die Konzert- bzw. Musikszene seit der Hochzeit des Metal in den 80ern verändert? Können aktuelle Musikströmungen aus Ihrer Sicht ähnlich gemeinschaftsstiftend sein? 

Die Metal-Sene ist deutlich heterogener geworden, E-Gitarren, Bass und Schlagzeug bilden zwar die Basis, aber zwischen dem Alternative Rock mit Black Metal Einflüssen der Isländer Sólstafir und dem rauen Thrash Metal von Sodom liegen Welten, um ein Beispiel zu nennen. Oder nehmen wir die weltweit erfolgreichen Herner Rage, die mit dem Prager Lingua Mortis Orchester kooperierten und etwas völlig Neues erschufen. Auch optisch hat sich viel verändert, gehörten lange Haare und Lederjacke und teils die Kutte in den 80ern zum Standard, ist die Szene deutlich bunter geworden. Von der Rebellion der Anfangstage ist wenig übriggeblieben, womit will man heutzutage auch noch provozieren? Trotzdem gibt es dieses identitätsstiftende Element in der Szene, das verbindet, sich aber nur schwer beschreiben lässt.  

Die Konzertszene hat sich in vielerlei Hinsicht verändert: Es gab noch nie so viele Festivals und Konzertreisen. Die Locations sind heute andere: Die Zeche Carl wurde z.B. vom Turock abgelöst. Ich bin kein Zukunftsforscher, aktuell kann ich mir aber keine Musikströmung vorstellen, die das Potential hat, ähnlich gemeinschaftsstiftend zu sein, da viele Jugendliche nicht mehr auf eine Musikrichtung festgelegt sind.  

Welche positive wie negative Rolle spielt die Digitalisierung hinsichtlich der Verbreitung der Musik und dem Austausch zwischen Fans? 

Das offensichtlich positive ist die weltweite schnelle Verbreitung – heute kann man auch aus der indischen Provinz oder irgendeinem bayrischen Dorf die Musik bei YouTube & Co. jederzeit entdecken und abrufen. Wenn man das mit den 80ern vergleicht, als die Tape-Trading-Szene selbstaufgenommene Musikkassetten weltweit verschickte, die teils sechs Wochen unterwegs waren, ist das ein großer Fortschritt. Negativ ist, dass bei den Künstlern so gut wie nichts hängen bleibt, weil erstens kaum mehr Tonträger verkauft werden und zweitens die Margen durch die Streaming-Dienste lächerlich gering sind. Das führt dann dazu, dass die Musik von Merchandise und Konzerten leben muss und es zunehmend schwerer wird. Keine gute Entwicklung! 

Haben Jugendliche heute ein ganz anderes Verhältnis zur Musik als früher und wirkt sich das vielleicht auch auf ihre Lebensweise aus? 

Definitiv. Musik ist ein überall verfügbares Gut, das unseren Alltag bestimmt, aber meist nebenherläuft. Wenn ein jugendlicher Metal-Fan in den 80ern nach Wochen seine lang ersehnte Schallplatte von Exodus oder Death Angel per Schiff oder Luftpost aus den USA bekam, hat man das Entdecken der Musik zelebriert. Da wurde jeder Song unzählige Male gehört, jeder Songtext analysiert und jeder Satz auf der Innenhülle gelesen. In der heutigen schnelllebigen Zeit mag es das vereinzelt noch geben, aber Musik ist für viele Jugendliche zum Wegwerfprodukt geworden. Ein Song, der nicht auf Anhieb gefällt, wird schnell übersprungen, was für eine teils sperrige Musik wie Heavy Metal problematisch ist. Ich mache die Beobachtung, dass sich viele nicht mehr so intensiv mit Musik beschäftigen. Ausnahmen gibt es selbstverständlich.   

Der Schatz der früheren Jugend: der Kassettenrekorder; Credit: Shanina/iStock / Getty Images Plus

 

Schulleiter und Metal-Experte, eine interessante Mischung. Sind das klare Gegensätze? Beeinflusst das eine manchmal das andere und wie? 

Das sind klare Gegensätze und als ich vor vier Jahren Schulleiter in der hessischen Provinz wurde, titelte die lokale Presse „Neuer Schulleiter ist Heavy Metal Fan“, das war schon ganz witzig. Ab und an kommen aber Eltern auf mich zu – zuletzt eine 70-jährige Mutter einer ehemaligen Schülerin. Sie sagte zu mir, dass sie Metallica auch ganz toll fände. Für mich ist das Metal-Experte-Dasein ein guter Ausgleich für den stressigen Alltag im Beruf. Vor allem die Lesungen aus meinen Büchern quer durch Deutschland machen großen Spaß, weil ich dabei immer wieder interessante Menschen kennenlerne.   

Gerade erst kam die PISA-Studie zu dem Schluss, dass deutsche Kinder im Vergleich nur durchschnittlich kreativ sind. Müsste Schule mehr für die kulturelle, künstlerische und kreative Bildung tun? 

Grundsätzlich: Bei PISA wird immer ganz gerne vergessen, dass es eine Studie im Auftrag der OECD ist, also eine aus wirtschaftlichen Interessen gesteuerte Studie, so dass die Ergebnisse mit der pädagogischen Brille gefiltert werden müssen. Es gibt hervorragende Programme zur musikalischen Förderung in Deutschland wie z.B. „JeKits – Jedem Kind Instrumente“, die leider nicht immer in der Breite ankommen. Sicherlich müssen wir mehr in die kreative Bildung investieren, wenn wir das „4K-Modell“, also Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und Kritisches Denken als Schlüsselkompetenzen der Zukunft ernst nehmen. Ich warne aber davor, noch mehr Fächer und Unterrichtsstunden zu fordern, unsere Schülerinnen und Schüler stehen schon jetzt extrem unter Druck. Wir müssen den Fokus darauf richten, wie wir unsere veralteten Schul- und Unterrichtsstrukturen in die Zukunft überführen. Und dazu reicht es nicht, wenn die Landesregierungen mit Erlassen rumdoktern.  

Schülerinnen und Schüler brauchen Musik. Nicht nur im Musikunterricht; Credit: Maskot/Getty Images

 

Warum haben Sie dem Ruhrgebiet als Wohnort den Rücken gekehrt? 

Das hat tatsächlich mit meiner Familie zu tun: Meine Frau kommt aus der Nähe von Marburg, hatte den Wunsch zurückzukehren und wir haben uns gemeinsam als Familie entschieden, ein altes Fachwerkhaus auf dem Dorf zu kaufen, zu sanieren und in die Region zu ziehen. Mehr Kontrast zu meiner Heimatstadt Oberhausen geht nicht. Wir sind aber nach wie vor häufig und sehr gerne im Ruhrgebiet, um Verwandte und Freunde zu besuchen.  

Gibt es Dinge, die Sie in Ihrer neuen Wahlheimat vermissen? 

Auf jeden Fall: Die Offenheit der Menschen im Ruhrgebiet, die ihr Herz auf der Zunge haben. Das ist schon eine besondere, einzigartige Mentalität und charmant, was ich erst im Nachhinein zu schätzen gelernt habe. Der Hesse an sich ist da schon eher zurückhaltender. Die Nähe zu Konzerthallen, der aktiven Metal-Szene, Kneipen und Restaurants, all das vermisse ich ein Stück weit.  

Was sind Probleme, mit denen die Region aus Ihrer Sicht zu kämpfen hat? 

Wenn ich an meine Heimatstadt Oberhausen denke, sind die Probleme gravierend: Stadtteile, die zunehmend verfallen, eine Innenstadt, die von Investoren als No-go-Area beschrieben wird, hohe Arbeitslosigkeit, das tut schon weh. Wenn ich mit Freunden aus Hessen nach Oberhausen komme, sind sie überrascht, wie viel die Region zu bieten hat. Was mir fehlt, ist eine Aufbruchsstimmung innerhalb der Kommunen, ebenso gemeinsam über die Stadtgrenzen hinaus, um die enormen Potentiale zu fördern.   

Sie haben schon einige Bücher geschrieben. Ist schon ein neues Projekt in der Pipeline? 

Buch Nummer neun und zehn sind gerade fertiggestellt: Ende August kommt der erste geschichtsdidaktische Band „Populäre Musik im Geschichtsunterricht: 1948 bis 1989“, der zweite dann von 1989 bis in das Jahr 2023. Die Bände richten sich vor allem an Geschichtslehrkräfte und die geschichtsdidaktische Forschung. Aktuell schreibe ich an der offiziellen Biografie der Gelsenkirchener Thrash-Band Sodom, die hoffentlich 2025 erscheinen wird. Ein für mich sehr spannendes Projekt!  

 

Das ist Holger Schmenk:

Dr. phil. Holger Schmenk, Historiker, studierte Geschichte, Germanistik sowie Erziehungswissenschaften und promovierte über die Stadtgeschichte Xantens im 19. Jahrhundert. Nach Zwischenstation als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Duisburg-Essen und Siegen arbeitet er aktuell als Schulleiter an einer Europaschule in Hessen.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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