Serap Güler wurde in Marl als Kind einer türkischen Gastarbeiterfamilie geboren. Aufgewachsen und sozialisiert als Tochter eines Bergmanns im Ruhrgebiet ist sie mittlerweile seit 2007 im Rheinland und seit 2012 in Köln zu Hause. Als Bundestagsabgeordnete in Berlin stellt sie sich seit einiger Zeit zudem besonders spannenden Aufgaben, ihre Heimat aber trägt sie dabei im Herzen. Was die Politikerin im Interview mit CheckPott über Herzensangelegenheiten, Wurzeln und Werte verrät:

©IMAGO / Achille Abboud

Können Sie in wenigen Sätzen einem Laien erklären, was Ihre Hauptaufgaben als Bundestagsabgeordnete sind und vor allem Ihre persönlichen politischen Herzensangelegenheiten?

Als Bundestagsabgeordnete vertreten wir die Menschen unseres Wahlkreises in Berlin, und umgekehrt erklären wir den Menschen vor Ort die Entscheidungen, die im Bundestag getroffen werden. Das ist eine wichtige Aufgabe und ich bin dankbar, dass ich das machen darf. Mein Herzensthema ist tatsächlich das Politikfeld, wo ich für meine Fraktion im Ausschuss sitze: die Verteidigungspolitik. Der Einsatz für und der Austausch mit unserer Bundeswehr, mit den Soldatinnen und Soldaten macht mir wirklich große Freude.

Woher kommt Ihre Leidenschaft für die Politik? Wann und wie hat es Sie zu diesem ja sehr fordernden und sehr öffentlichen Beruf hingezogen?

Ehrlicherweise kam das bei mir sehr spät. Ich komme aus einem eher unpolitischen Elternhaus. Das Interesse für Politik ist bei mir tatsächlich erst mit dem Studium gekommen. Ich habe Kommunikationswissenschaften studiert, und die politische Kommunikation war einer meiner Schwerpunkte, was dann zunehmend mein Interesse für Politik geweckt hat. Nach dem Studium habe ich angefangen, für die Landesregierung zu arbeiten: Erst als Redenschreiberin, dann als Pressereferentin, bis ich mich 2012 das erste Mal selbst für ein Mandat beworben habe.

Sie haben türkische Wurzeln, sind im Ruhrgebiet aufgewachsen, dann ins Rheinland gezogen, heute pendeln Sie auch nach Berlin. Was ist für Sie „Heimat“? Wie definieren Sie den Begriff für sich oder sehen Sie ihn vielleicht eher als problematisch an?

Heimat ist etwas Wundervolles, ich liebe diesen Begriff. Aber zur Wahrheit gehört auch: Meine Heimat ist selten Singular. Ich habe mehr als eine Heimat. In Köln sagt man: Home is where the dome is. Aber für mich ist auch das Ruhrgebiet, wo ich an verschiedenen Orten 27 Jahre meines Lebens verbracht habe, ein Stück Heimat. Und genauso können auch Menschen Heimat sein. Da gilt: Mein Mann ist für mich Heimat.

Sind Sie noch oft im Ruhrgebiet zu Besuch? Was macht es für Sie besonders?

Meine Mutter lebt ja noch im Ruhrgebiet, meine beste Freundin auch. Ich bin leider nicht so oft da, wie ich gerne wäre. Ich mag die Menschen dieses Fleckchens Erde. Ihre Offenheit und Direktheit genauso wie ihre Hilfsbereitschaft und das Wir-Gefühl, das hier gelebt wird. Das ist einer der Gründe, warum ich mich in Köln so schnell zu Hause gefühlt habe. Ich finde die Mentalitäten doch sehr ähnlich.

Gibt es für Sie eine Ruhrgebiets-Mentalität und wenn ja: Haben Sie da bei sich selbst Eigenschaften ausgemacht und wenden diese an? Und: Was muss man als Politikerin in Sachen Mentalität der Wählerinnen und Wähler im Revier berücksichtigen aus Ihrer Sicht, um diese vielleicht zu erreichen?

Wenn man das, was ich gerade sagte, auf einen Nenner bringen will, würde ich „Kumpelmentalität“ dazu sagen - ich glaube, das bringt es ganz gut auf den Punkt. Direkt und füreinander da, darauf kommt‘s an. Ich denke, jeder, der im Ruhrgebiet Politik machen will, muss vor allem eines mitbringen, was vielleicht in München nicht so gefragt ist: Bodenständigkeit.

Ihr Vater war Bergmann, hat Sie das besonders geprägt? Und wie haben Sie aus dieser Perspektive heraus den Strukturwandel erlebt?

Ja, sehr. In vielerlei Hinsicht. Mein Vater hat viel und oft gearbeitet und war immer besonders stolz auf seine Arbeit, die extrem hart war, ihm aber dennoch Spaß gemacht hat. Ich bin ja in einer Zechensiedlung aufgewachsen, die Zeche gehörte also zu unserem Leben. Zumal mein Bruder auch Bergmann war. Als dann Ende der 80er-Jahre der Ausstieg aus der Steinkohle beschlossen wurde, war ich noch ein Kind, aber als ich irgendwann verstand, was das für die ganze Region bedeutete, war das schon ein Einschnitt. Ein Einschnitt in die eigene Biografie sozusagen, da es das, was die eigene Lebensgrundlage bildete, das, was der Grund für meinen Vater war, nach Deutschland zu kommen, künftig nicht mehr geben sollte: die Steinkohle. Wir als Bergarbeiterfamilie waren darüber nicht froh. Als dann die letzte Zeche, das Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop, 2018 schloss, war ich Staatssekretärin, und ich erinnere mich, wie die letzten Bergleute vor dem Landtag gegen die Schließung und für ihren Arbeitsplatz demonstriert haben. Ich hatte jegliches Verständnis für diese Menschen.

Sie waren von 2017 bis 2021 Staatssekretärin für Flüchtlinge und Integration in Nordrhein-Westfalen, jetzt wurde unter Ihrer Führung auch das Netzwerk für Migrantinnen und Migranten in der CDU neu gestartet. Was sind Ihnen dort die Hauptanliegen?

Wir möchten Menschen mit Migrationsgeschichte der CDU näherbringen und umgekehrt.

Wo sind NRW und insbesondere das Ruhrgebiet Vorbild in Sachen Migration, wo macht es Fehler, aus denen man lernen sollte?

NRW ist, wenn Sie so wollen, das Einwanderungsland der Bundesrepublik. Hier leben über 30 Prozent, die selbst eine Migrationsgeschichte haben – das ist höher als der Bundesdurchschnitt. Gerade das Ruhrgebiet hat viele positive Geschichten der gelungenen Integration, aber der Strukturwandel ist auch an vielen Menschen mit Migrationsgeschichte nicht vorbeigegangen. Unter den Bergleuten vor dem Landtag waren viele Migrantinnen und Migranten dabei, leider zeigt das die Arbeitslosenstatistik auch. Hier müssen wir besser werden, was die Integration in den Arbeitsmarkt betrifft. Das sehen wir gerade ja auch bei den Ukrainerinnen und Ukrainern. Der Fehler der Vergangenheit war oft: etwas gut zu meinen, aber extrem schlecht zu machen. In den 80er-Jahren waren das die Türkenklassen. Man steckte alle türkischen Kinder in eine Klasse mit einem Türkischlehrer, um sie so auf ihre Resozialisation in der Türkei vorzubereiten und ihnen kein Deutsch zuzumuten. Heute meinen wir, dass wir den Ukrainerinnen und Ukrainern einen Gefallen tun, indem wir sie direkt zu Bürgergeldempfängern machen. Ich halte das für falsch.

Wie definieren Sie persönlich die deutsche Leitkultur, welche Werte gehören dazu, welche Aufgabe an unsere Gesellschaft und an Politikerinnen und Politiker steckt dahinter?

Erstmal ist eine Kultur, immer fließend und nie etwas geschlossenes, und zweitens richtet sich eine Leitkultur nicht ausschließlich an die, die neu dazugekommen sind, sondern an alle, die in diesem Land leben – egal, wie lange. Gerade solch ein Einwanderungsland, wie wir es heute sind, braucht gemeinsame Regeln, Gepflogenheiten, die von allen akzeptiert werden, um gut miteinander auszukommen. Für mich gehört auf jeden Fall die deutsche Sprache dazu.

Geht es nicht auch ohne Leitkultur oder ist sie für ein gelungenes Miteinander notwendig?

Ich glaube, mit geht es besser.

Wie wichtig ist Bildung in diesem Zusammenhang?

Bildung ist der Zugang zu allem, vor allem in eine Gesellschaft.

Hat Deutschland und insbesondere NRW aus Ihrer Sicht ein gutes Bildungssystem oder wo müsste nachjustiert werden?

Ich glaube, dass wir nach wie vor ein Problem mit der Durchlässigkeit haben. Wir sind hier aber besser geworden. Eine der besten Maßnahmen in NRW, seitdem die CDU regiert, sind definitiv die Talentschulen, die gerade Kindern und Jugendlichen aus prekären Verhältnissen echte Chancen bieten. Aber auch das Startchancenprogramm der Bundesregierung ist gut und geht in die richtige Richtung.

Was würden Sie all jenen Menschen sagen, die sich nicht mit Politik auseinandersetzen oder verdrossen sind? Warum lohnt es sich, wählen zu gehen?

Ohne Politik wird nichts besser in diesem Land. Das Gegenteil wäre der Fall. Jede Stimme zählt. Man kann sich natürlich immer über das Ergebnis ärgern, weil man sich etwas anderes gewünscht oder etwas anderes gewählt hat. Aber dieses Recht auf Ärgern hat man auch nur dann, wenn man gewählt hat. Ich habe wirklich kein Verständnis mehr für Menschen, die einerseits nicht wählen, andererseits sich nur noch ärgern. Die Chancen, mit der eigenen Stimme etwas zu verändern, sind doch größer, als sich vom Spielfeldrand nur über die Spieler aufzuregen.

Würden Sie mit Ihrer Erfahrung heute nochmal Politikerin werden?

Ja, ich liebe meine Aufgabe.

Wie gehen Sie mit Anfeindungen um?

Man lernt damit umzugehen. Ich habe eine große Familie und gute Freunde, die immer an meiner Seite stehen. Deshalb habe ich auch nicht die Zeit, mich mit Anfeindungen lange auseinanderzusetzen. Dafür bin ich dankbar.

©Laurence Chaperon

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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