„Herzensplatz Augusta“ – mit einem für kühle Klinik-Atmosphäre ungewöhnlich emotionalen Slogan werben die Bochumer Augusta Kliniken zurzeit auf großflächigen Plakaten in der Ruhrgebietsstadt um dringend benötigtes Personal. Für Thorsten Schleifer, Oberarzt der Anästhesie und Intensivmedizin im Augusta, hat der „Herzensplatz“ eine ganz eigene Bedeutung. Denn so, wie das Krankenhaus seit knapp 160 Jahren zur Stadt Bochum gehört und gemeinsam mit ihr durch Weltkriege und Wirtschaftskrisen, Hungersnöte und Epidemien gegangen ist, so gehört Thorsten Schleifer zum Augusta, seit über 30 Jahren beruflich, eigentlich aber sein ganzes Leben lang. Ohne das Augusta gäbe es Thorsten Schleifer nicht, seine Eltern haben sich in der Klinik kennen- und lieben gelernt. Eine Ruhrgebiets-Familiengeschichte.

Alles begann mit einem Arbeitsunfall, der Vater Friedrich, gebürtig aus Essen und gelernter Chemietechniker, zu einer Umschulung zwang. Er entschied sich für die Krankenpflege, was für damalige Verhältnisse eher unüblich war. Thorsten Schleifers Mutter Elke, Kind aus einer Flüchtlingsfamilie aus dem Osten, musste sehr früh auf eigenen Beinen stehen und arbeitete Anfang der 1960er-Jahre bereits als Krankenschwester im Bochumer Augusta. Sie wohnte im zugehörigen Schwesternwohnheim, er zog in eines der fünf Zimmer oberhalb der Hauswerkstatt, die für die wenigen Krankenpfleger vorgesehen waren. Damenbesuch? Nicht gestattet. Herrenbesuch bei den Schwestern? Undenkbar!

Augusta-Pfleger Friedrich Schleifer, Augusta-Krankenschwester Elke Schleifer, bereits ein Paar. „Die Zigaretten“, sagt Thorsten Schleifer, „gehörten damals dazu…“.

Die Liebe und die Moral

Kinderbild, Thomas, Silke, Thorsten Schleifer (von links)

Wie der einsame Krankenpfleger und die hübsche Krankenschwester es schafften, sich am Klinikbetrieb vorbei ineinander zu verlieben, soll ihr Geheimnis bleiben. Tatsache ist: „Sie waren permanent von Kündigung bedroht“, erzählt Thorsten Schleifer. „Die Moralvorstellungen damals waren streng. Ein Krösken auf der Arbeit als Unverheiratete, das ging überhaupt nicht!“

Und damit in der Freizeit ja keine Kollegin, kein ehemaliger Patient, kein Vorgesetzter sie händchenhaltend auf der Kortumstraße im Café sitzen sahen, wichen die beiden auf das ganze Ruhrgebiet aus. „Die kannten sich bald besser in Essen oder Dortmund aus als in Bochum“, lacht Schleifer: „Monate später dann litt meine Mutter an unstillbarem Erbrechen. Alle Kollegen machten sich große Sorgen, die Ärzte tippten auf ein Magengeschwür wegen Stress. Schwester Elke wurde aufwendig geröntgt, dafür musste man früher noch eine Kontrastlösung schlucken, auch eine Magenspiegelung wurde vorgenommen. Ohne Ergebnis. Neun Monate später hatte das Magengeschwür Arme und Beine in Form meines älteren Bruders Thomas…“. Das war im Juli 1964, im Dezember davor war rasch geheiratet worden. Zügig hintereinander kamen dann noch Thorsten Schleifer und seine Schwester Silke zur Welt.

Sind fast so etwas wie eine „Augusta-Familie“ - Oberarzt Thorsten Schleifer (hinten stehend), seine Eltern und Geschwister (v.l.n.r): Mutter Elke, Schwester Silke, Vater Friedrich, Bruder Thomas.

Wenn Kinder Mullbinden aufwickeln

Die Schleifer-Kinder waren immer dabei, wenn auf den Stationen in der Klinik etwas los war (alle Fotos privat)

Der Arzt erinnert sich an eine glückliche und genügsame Kindheit: „Wir hatten eine Personalwohnung an der Bergstraße, direkt gegenüber dem Krankenhaus, wo heute das neue Parkhaus steht.“ Die Werkswohnungen seien günstig und ausreichend groß gewesen für Familien. Die Eltern zogen ins kleinste Zimmer auf eine Schlafcouch, die beiden Jungs teilten sich einen Raum und die Schwester bekam ein Einzelzimmer: „Darüber hat sie sich dann beschwert, weil sie die Einzige war, die allein schlafen musste“, erinnert sich Schleifer.

Gespielt wurde mit den Kindern der anderen Klinikbeschäftigten, im Innenhof oder noch lieber „auf der wilden Brache, die es damals noch an der Castroper Straße gab“. Bis es dunkel wurde. „Oft haben wir dann auch zu Feierabend unseren Vater von der Arbeit in der Klinik abgeholt. Wenn wir warten mussten, dann steckten uns die Krankenschwestern in einen Abstellraum und ließen uns Mullbinden aufwickeln oder Pflaster in Stücke schneiden. Kinderarbeit eben“, lacht Thorsten Schleifer, „Heute wäre das alles absolut undenkbar!“

Vieles ist heute „undenkbar“. „Mein Vater hat als Pfleger Patienten aus dem OP noch selbst auf die Stationen getragen, weil es keine Betten mit Rollen gab, keine oder zu kleine Fahrstühle“, berichtet der Anästhesist. Und die Mutter schob Nachtdienste, „damit wir uns eine größere Anschaffung oder einen Urlaub leisten konnten“. Sie kam nach Hause, wenn die Kinder für die Schule fertiggemacht werden mussten und schlief dann ein paar Stunden am Vormittag, bis die Kinder aus der Schule zu Mittag heimkamen.

Doch wenn beispielsweise dann der VW-Variant, Stolz der Familie, vor dem geplanten Urlaub in Holland kaputt ging, wurde der Urlaub gestrichen: „Dann wurden wir Kinder eben in den Ferien zu den Omas nach Dortmund oder Essen geschickt. Das hatten wir zu akzeptieren, da waren wir nicht verwöhnt. Deshalb empfinde ich es heute auch als absoluten Luxus, mit meiner Familie in den Urlaub zu fahren und gleichzeitig mein Auto reparieren lassen zu können.“

Offenherzig und bodenständig

Die Schleifer-Kinder waren immer dabei, wenn auf den Stationen in der Klinik etwas los war.

1978 zogen Schleifers nach Schwelm, die Eltern übernahmen die Leitung eines Seniorenheims. „Damals wollte ich noch Rettungswagenfahrer werden. Aber mein Vater riet mir, lieber Notarzt zu werden. Dann könnte ich im Rettungswagen fahren, müsste aber die schweren Patienten nicht tragen…“, erzählt Thorsten Schleifer. Die Abi-Noten reichten zunächst nicht für ein Medizinstudium, eine Ausbildung zum Pfleger kam ins Spiel. „Meine Mutter entwickelte jede Menge Elan, ließ ihre Augusta-Kontakte spielen. Ich ließ mich auf ein Vorstellungsgespräch bei den Diakonissen der Pflegeschule ein.“

Die Ausbildung bei den strengen Diakonissen, die bis 1988 im Augusta wirkten, sei „die absolut richtige Entscheidung gewesen“. Der Unterricht sei engagiert, spannend und realitätsnah gewesen. „Die Diakonissen waren persönlich beleidigt, wenn wir uns nicht genug angestrengt haben“.

Noch während des Pflege-Examens bekam Thorsten Schleifer die Zusage zu einem Studienplatz in Medizin, das Studium absolvierte er zügig, nebenher jobbte er als Pfleger – im Augusta: „Da entsteht schon eine Bindung zum Arbeitgeber. Das ist heute aber selten geworden“, stellt er fest. Die Arbeitsverträge hätten andere Konditionen, gleichzeitig wechselten junge Leute schneller die Stelle, wenn ihnen etwas nicht passt.

Thorsten Schleifer ist überzeugt, dass seine Eltern mit ihrer Liebe zum Beruf, zum „Dienst am Menschen“ eine positive Grundeinstellung an ihre Kinder weitergegeben haben. Auch Bruder und Schwester sind in Pflegeberufe gegangen, Schleifers Tochter ist Anästhesistin. Oberarzt Thorsten Schleifer sieht sich, seinen Beruf, seinen Arbeitsplatz, ja auch seinen Lebensweg dabei „ruhrgebietstypisch“ und meint das ganz und gar positiv: „Wir sind offenherzig und bodenständig. Und wir sind offen anderen Kulturen gegenüber, das waren wir doch eigentlich immer. Schauen Sie sich doch mal die Belegschaften in unseren Krankenhäusern an, die kommen aus vielen Ländern. Und wir tun, was wir können, damit sie sich bei uns auch zuhause fühlen!“ Herzensplatz eben.

Viele Schwestern, ein Pfleger (Friedrich Schleifer), auch in den Bochumer Augusta Krankenanstalten. Männer in Pflegeberufen waren damals sehr rar.

Cornelia Färber

Cornelia Färber arbeitete über 30 Jahre als Mantelredakteurin und Reporterin bei der Neuen Ruhr / Neuen Rhein Zeitung (NRZ) in Essen. Dort schrieb sie mit Vorliebe Gerichtsreportagen und Geschichten über Menschen. 1991 wurde ihr der Theodor-Wolff-Preis verliehen. Seit einigen Jahren arbeitet die gebürtige Hattingerin freiberuflich. Cornelia Färber wohnt und lebt in Essen und ist die meiste Zeit im ganzen Ruhrgebiet unterwegs.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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