Mal brettern sie, oft stehen sie, aber immer sind sie viele: Über 120.000 Fahrzeuge nutzen jeden Tag die Autobahn A40. Damit gilt die auch Ruhrschnellweg genannte Mega-Route als Lebensader des Potts. Eine extrem laut pulsierende Ader der Motorgeräusche, quietschenden Bremsen und hupenden Lkw und Pkw. Mittendrin in diesem Dunst aus Abgasen und Lärm reckt sich der 30 Meter hohe Turm der Epiphanias-Kirche mit seinem stattlichen Metallkreuz an der Spitze stolz, beinahe trotzig in die Höhe, Richtung Himmel. Wohin auch sonst. „Komm zur Ruhe“ steht in großen Lettern an den dicken Backsteinen des Gebäudes auf der Dorstener Straße in Bochum-Hamme. Gut sichtbar für jeden und eine echte Einladung in diesem Getöse. Und irgendwie auch humorvoll. Passend zum Pott!

Einst entstanden aus einem handfesten Streit

Seit 2010, dem Kulturhauptstadtjahr im Ruhrgebiet, ist sie Autobahnkirche. Damals die 34. bundesweit, aber die erste im Revier und die einzige mitten in einem Stadtgebiet. Die Geschichte des Gotteshauses reicht aber weiter zurück und beginnt ausgerechnet mit einem handfesten Streit. 1926 gab es im Ortsteil Hamme nur eine evangelische Gemeinde mit einem Pfarrer, der zwar als toller Prediger galt, aber wohl auch den Frauen und Spielen zu sehr zugetan war. Ein Teil der damals rund 10.000 Mitglieder der Pfarrei wandten sich empört ab und gründeten, so läuft das hier, eine neue lutherische Gemeinde. Bald danach begann der Bau einer Kirche, geweiht wurde das fertige Gebäude 1930. Der heutige Name Epiphanias soll an die Erscheinung Christi vor den Weisen aus dem Morgenland erinnern und irgendwie passt das, ist sie doch selbst eine Art Erscheinung mitten zwischen Verkehrschaos und Industrielandschaft.

„Ich fand es immer schon enttäuschend vor einer verschlossenen Kirchtür zu stehen.“

Eine Autobahnkirche muss bestimmte Kriterien erfüllen. Parkplätze für Busse und Lkw gehören dazu. Die Türen sollen in der Regel zwölf Stunden am Tag offen, der Raum beleuchtet und beheizt sein. „Ich fand es schon immer enttäuschend, wenn ich vor einer verschlossenen Kirchtür stand“, erklärt Karl-Heinz Gehrt, der als damaliger Pfarrer der Gemeinde direkt von der Idee, die Epiphanias-Kirche zur Autobahnkirche zu machen, überzeugt war. „Gott“, so der Theologe, „lädt mit offenen Armen ein und so sollte es auch das Gotteshaus tun.“ Schnell konnte er damals viele Befürworter finden, ohne Gegenstimme beschloss die Gemeinde: „Wir machen’s!“ Doch wer kommt denn nun, außer den heute nur noch rund 400 Mitgliedern, in dieses Haus und öffnet die schwere Aluminiumtür, jenseits der normalen, regulären Gottesdienste?

„Es gibt Stammgäste und spontane Besucher“, berichtet Gehrt. Mal sind es Pendler, die auf der Durchreise eine kleine Pause suchen, Lkw-Fahrer, die eine Auszeit brauchen, Familien, die auf einer langen Reise Stärkung in der Ruhe finden wollen. Allen ist Anonymität sicher, wer mag, trägt sich ins Anliegenbuch ein, inkognito oder namentlich. Es liegt direkt im Eingangsbereich der Kirche auf einem Tisch. Spirituelle Gedanken werden darin festgehalten wie „Danke für diesen Ort der Ruhe“ oder „Hier kann ich sein“, aber auch ganz konkrete Bitten: „Mach Opa wieder gesund“, „Bitte um eine gute Diagnose für meine Tochter“… Die Besucher können auch Kerzen anzünden, für Menschen, die ihnen nahestehen. Oder nahestanden. Man kann auf den Bänken platznehmen. Nachdenken. Beten. Oder einfach nur zur Ruhe kommen. Messen, so Karl-Heinz Gehrt, was diese Momente der Einkehr den Menschen bringen, könne man nicht. „Aber oft ist sie, besonders in Krisen und Grenzerfahrungen, ein erster Schritt, den weiteren Weg zu finden.“ Aus der Trauer, der Verzweiflung, den Selbstmordgedanken. Auch von letzteren hat der Pastor im Ruhestand, der heute stellvertretender Vorsitzender des Trägervereins der Autobahnkirche RUHR ist, in der Epiphanias-Kirche schon in Einträgen gelesen. Zum Glück wählte derjenige, der die tiefdunklen Worte schrieb, am Ende doch das Leben, wie Gehrt kurz darauf erfuhr, als er den Vater des jungen Mannes unerwartet in der Kirche antraf – Zufall oder Fügung?

„Es wird schwerer, die Botschaft der Liebe Gottes zu übermitteln“

Sie sind schön, die Erinnerungen von Karl-Heinz Gehrt und sie tun gut in dieser rastlosen Zeit. Aber ihm ist, wie vielen anderen Vertretern der katholischen und evangelischen Kirche, auch klar, „dass es heute eine Herausforderung ist, die Botschaft der Liebe Gottes zu übermitteln.“ Nicht nur in der Metropolregion. Das, so Gehrt, könne aber auch eine Chance sein. Wenn man sich nicht mehr darauf verlassen würde, die ganz große Lehre vermitteln zu können, würden die wesentlichen Fragen wieder mehr in den Vordergrund rücken. Was hält uns zusammen? Wer ist für mich da und für wen kann ich, wenn er oder sie mich braucht, eine Hilfe sein? Das kann neu miteinander verbinden.

Gehört der Glaube denn wirklich noch zur Ruhrgebietsidentität? Gehrts Antwort kommt schnell und überzeugt. Die eine Identität gäbe es ohnehin nicht und das mache das Revier doch irgendwie auch so besonders. Die buntere Vielfalt an Kulturen, die vielen Gegensätze, die unterschiedlichen Glaubensrichtungen. Was die meisten aber aktuell doch vereinen würde, wäre die Frage danach, ob einen für die Zukunft die Angst oder das Vertrauen bestimme. Das Vertrauen etwa darin, dass Dialog unverzichtbar ist im Melting Pot(t) und Abgrenzung nicht der richtige Weg sei, um sie zu finden: die neue, die andere Ruhrgebietsmentalität bestehend aus vielen Identitäten.

„Das Ruhrgebiet hat nicht nur eine romantische oder romantisierte Vergangenheit, es hat auch Jahrzehnte lang die Schattenseiten der Industrialisierung ertragen. Die Schwerstarbeit, die Zerstörung von Natur und eine Art Entwurzelung, als man sich auf Kohle und Stahl eben nicht mehr so verlassen konnte.“

Karl-Heinz Gehrt, Theologe und Pastor im Ruhestand

Das Ruhrgebiet – auch eine Region der Entwurzelung

Und eines dürfe man dabei nicht vergessen: „Das Ruhrgebiet hat nicht nur eine romantische oder romantisierte Vergangenheit, es hat auch Jahrzehnte lang die Schattenseiten der Industrialisierung ertragen. Die Schwerstarbeit, die Zerstörung von Natur und eine Art Entwurzelung, als man sich auf Kohle und Stahl eben nicht mehr so verlassen konnte.“ Jetzt, so bringt es der Theologe auf den Punkt, werden die Menschen sich neu orientieren müssen. Worauf können wir letztlich vertrauen und was gibt uns in Krisen Halt? Besonders in sozialschwachen Stadtteilen stellt sich die Frage, was uns als Einzelne und als unterschiedlichste Gruppen zusammenhält. Die Kirche als Gemeinschaft aus verschiedenen Kulturen und Sprachen könne dabei ein Modell sein. Vertrauen in den Gott, der mich freundlich ansieht, Hinwendung zu anderen und Fremden, Hoffnung auf eine Zukunft: Da mögen sich Wege auftun zu neuer Stärke und neue Nähe.

Die Autobahnkirche selbst baut bereits an ihrer weiteren Zukunft. Als ganz zupackender und pragmatischer Trostspender und Umarmer. So will sie eine öffentliche Gedenkstätte werden für Opfer von Verkehrsunfällen. Damit deren Angehörige einen Ort haben, wo sie trauern können und vielleicht neue Kraft finden. Regelmäßige Gedenkgottesdienste im November jeden Jahres werden schon seit 2010 in Zusammenarbeit mit Polizei, Notfallseelsorge, Feuerwehr und Rettungskräften gefeiert. „Da es auf Autobahnen nicht möglich ist, ein Kreuz aufzustellen, auszusteigen, Zwiesprache zu halten, möchten wir eine dauerhafte Gedenkstätte bieten. Hier kann man z. B. ein Bild des Verstorbenen aufstellen, Kerzen anzünden, trauern“, erklärt Karl-Heinz Gehrt. Die Resonanz in der Gemeinde und über die Stadtgrenzen Bochums hinaus ist schon jetzt sehr positiv. Nun gilt es Mitstreiter zu finden. Die sie leben: die Idee von mehr Wir und weniger Ich in diesen stürmischen Zeiten – im Ruhrgebiet und überall.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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